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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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fühlen. Ob ich in diesem »Spielzimmer« ruhig schlafen konnte, war eine andere Geschichte.
    »Wird schon irgendwie gehen«, murmelte ich und rieb meine klammen Handflächen aneinander. Außer den Regalbrettern gab es nur noch ein Bett und einen winzigen Schreibtisch. Gerade genug Platz, um meine ...
    »Oh nein. Nein! Ich hab die Heimchen vergessen.«
    »Heimchen?«
    »Für Berta und Henriette. Ihr Lebendfutter.«
    Es war Mama wahrscheinlich ein Fest gewesen, sie aus ihrem Gefängnis im Badezimmer zu befreien und in den Garten zu entlassen, nachdem sie festgestellt hatte, dass ich sie nicht mitgenommen hatte. Also waren sie schon tot. Für Grillen war der Winter nicht gemacht. Ich seufzte. Den Heimchen konnte ich nicht mehr helfen, aber Berta und Henriette hatten erst heute Morgen ihre letzte Ration bekommen. Sie würden mir nicht unter den Händen wegsterben.
    Ich rückte den blassen Frosch und das Mikroskop zur Seite und hievte die Transportboxen auf das Regalbrett über dem Bett. Ihre richtigen Behausungen würden meine Tiere erst morgen wiederbekommen - falls Paul den Volvo fand. Denn die Terrarien und Aquarien befanden sich noch im Kofferraum. Bis dahin mussten meine Scheusale sich mit dem zufriedengeben, was sie hatten - so wie ich mich mit Pauls Spielzimmer.
    Während ich Heinz und Konsorten gut zuredete, beobachtete Paul mich unablässig und schob sich dabei einen Riegel Bitterschokolade in den Mund. Sie verschwand ebenso schnell wie die Currywurst.
    Nachdem mein Bruder mich mit kritischem Blick allein gelassen und sich vor den Fernseher gesetzt hatte, öffnete ich das Fenster und blickte hinunter auf das Wasser. Weit und breit war kein Baum zu sehen und das ständige Motorenröhren der Stadt, so gedämpft es auch herüberschallte, zerrte an meinen Nerven.
    Ja, ich war in der Nähe des Meeres und Colin befand sich irgendwo da draußen auf dem Wasser, doch ich hatte mich noch nie so abgeschnitten von ihm gefühlt wie jetzt. Hier gab es keinen Platz, den wir geteilt hatten, nichts, was wir gemeinsam gesehen hatten. Alles war kalt und fremd.
    Ich suchte den Mond, fand ihn aber nicht. Der Mond war das Einzige, was Colin und mich verbinden konnte. Ich wusste, dass er es liebte, in den Mond zu schauen, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass unsere Seelen sich dort oben in der endlosen Kälte des Alls trafen - für einen kurzen, schwankenden Moment, in dem ich ihm so nahe war, dass ich seine kühle Aura spürte und die schwarze Glut seines Blickes, der sich in mein Herz verbiss.
    Ich schloss das Fenster, zog mich aus und legte mich unbeholfen in das schmale, quietschende Bett.
    In dieser Nacht träumte ich das erste Mal seit seinem Verschwinden von meinem Vater. Wir hatten ihn gefunden und wir hatten ihn zurückgeholt.
    Wir saßen zu viert in unserem alten Haus in Köln, Mama, Papa, Paul und ich. Es hatte niemals einen Streit zwischen Paul und Papa gegeben - oder es redete niemand mehr davon. Mama und Paul waren überglücklich, dass Papa wieder da war. Sie leuchteten förmlich vor Stolz.
    Aber Papa sah müde aus, so abgrundtief müde und entkräftet, wie nur Menschen aussehen, die lieber sterben wollen, als nur noch eine weitere Minute auf den Beinen bleiben zu müssen. Ja, er war todmüde. Er blickte mich an, milde lächelnd und mit einem leisen, ergebenen Achselzucken, einer Geste, die niemand sah außer mir, und ich begriff, dass er gar nicht hier sein wollte. Dass wir ihn hätten ziehen lassen sollen. Dass es egoistisch gewesen war, ihn zurückzuholen. Er war nur uns zuliebe hier, weil wir ihn so sehr vermisst hatten.
    Doch ich wollte ihm nicht erlauben, sich von seinem Leben, von seinem Dasein zu erlösen. Er war zurückgekommen. Und wer zurückkam, durfte nicht wieder gehen.
    Denn das würden wir nicht ein zweites Mal ertragen.
    Nun musste er bleiben. Für immer.

Ratatouille
    Ein gedämpftes Husten, das sanfte Plätschern kleiner, regelmäßiger Wellen und ein sonores Motortuckern zogen mich langsam, aber unnachgiebig aus meinem chaotischen Morgenschlaf. Ich benötigte einige Minuten, um all die Geräusche möglichst sinnvoll zuzuordnen.
    Das Husten gehörte zu meinem Bruder (und es verwunderte mich nicht, da er gestern mit freiem Hals und offenem Mantel im eisigen Seewind gestanden hatte), das Plätschern gehörte zu dem Wasser unter mir und das Tuckern vermutlich zu einem Boot, das gerade das Haus passierte. Ich war in Hamburg, bei Paul. Und wenn ich meine Augen öffnete, würde ich direkt auf Bertas

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