Scherbenmond
schwärzlich glänzenden Leib und ihre gespreizten Beine schauen.
Auch ich verspürte einen Hustenreiz im Rachen und das Schlucken fiel mir schwer. Ich fuhr mir mit der Fingerspitze über die Lider und ertastete Salzkristalle, die sich in ihren Winkeln festgesetzt hatten. Ich war nicht im Begriff, krank zu werden - nein, ich hatte »nur« im Schlaf geweint. Wie so oft seit Colins Flucht.
Ich rollte mich seitwärts aus dem Bett und gönnte Berta erst dann einen kurzen Blick, als sich mein Kreislauf austariert hatte und ich mich nicht mehr ganz so schwach in den Knien fühlte. Sosehr sich mein Verhältnis zu der Giftspinne in den vergangenen Monaten normalisiert hatte: Wenn ich morgens aufwachte, wollte ich sie nicht sehen. Nicht sofort. Und schon gar nicht, nachdem ich wieder einmal geträumt hatte, dass ich eines Nachts Colin fand, oben an der Kuppe auf dem Feld bei den Apfelbäumen, abgeschlachtet und zerfetzt, auf das taunasse Gras gebettet neben Louis’ Leichnam, und ich sein kaltes, erstarrtes Gesicht abwechselnd küsste und schlug, um ihm Leben einzuhauchen, während im Geäst des Baumes Tessa lauerte und nur darauf wartete, sich auf mich herabfallen lassen zu können. Und doch hatte ich keine Angst in diesen Träumen. Ich war so traurig, wie ich es vorher in dem Traum von Papa gewesen war. So traurig, dass ich mir beinahe wünschte, sie würde mich endlich holen.
»Träume sind Schäume«, versuchte ich mich zur Vernunft zu bringen. »Colin lebt. Er ist ihr entkommen.« Meine Worte gingen in einem neuerlichen Husten von nebenan unter. »Geschieht dir recht, Paul«, setzte ich heiser, aber sehr boshaft hinterher und fühlte mich ein wenig besser. Nun konnte ich mich Berta widmen. Sie wirkte gereizt, wenn auch längst nicht so bizarr und verhaltensgestört wie nach Tessas Ankunft. Und sie hatte unverkennbar Hunger. Heinz war in stille Apathie verfallen und pflegte im Schatten seines Steins seine Depressionen. Henriette betete. Nur Hanni und Nanni schien die Nähe des Meeres in eine euphorische Stimmung versetzt zu haben. Eifrig suhlten sie ihre flirrigen Körper im Sand und stießen winzige Luftbläschen aus.
Als ich zu Paul in die Küche trat - frisch geduscht und frei geräuspert -, brach die Sonne durch die tief hängenden Wolken und leuchtete mich direkt an. Geblendet blieb ich stehen - ein Zustand, den ich eine kleine Weile auskostete, um mich in Ruhe umsehen zu können, sobald ich wieder etwas erkennen konnte. Der Eindruck aus dem Bad setzte sich fort. Pauls Küche kam nicht so puristisch daher wie die von Colin, sondern verspielter und farbiger, doch teuer schien sie allemal gewesen zu sein. Was Paul nicht alles hatte -Edelstahlmixer, Saftpresse, Induktionskochfeld, amerikanische Küchenmaschine, Espressoautomat, Alessi-Zuckerdöschen und jede Menge Schnickschnack.
»Morgen«, murmelte Paul, ohne hinter seiner Morgenzeitung aufzutauchen, und er erinnerte mich dabei so sehr an Papa, dass ich scharf die Luft einsog. Seine blauen Augen schoben sich fragend über die Schlagzeile. »Alles okay?«
»Bestens«, sagte ich kühl und setzte mich zu ihm. Er legte die Zeitung neben seinen Teller, stellte mir den Brotkorb vor die Nase und bestrich sich die übrig gebliebene Hälfte seines Brötchens dick mit Butter und Nutella. ln drei Bissen hatte er sie seinen Magensäften anvertraut und schob in nicht minder beängstigender Geschwindigkeit ein Brot mit Schinken hinterher. Schon beim Zusehen bekam ich das Gefühl, mein Cholesterinspiegel würde gefährlich in die Höhe schnellen.
»Musst du nicht in die Uni? Oder habt ihr Semesterferien?«
Paul antwortete mit einem Laut, den ich weder als Ja noch als Nein interpretieren konnte. Er trank einen großen Schluck Kaffee und blickte verträumt nach draußen, wo eine bunt angestrichene Barkasse das blau glitzernde Wasser durchpflügte.
»Weißt du, das ist mir die liebste Zeit des Tages - am Fenster sitzen, abwechselnd in den Himmel schauen und dem Treiben da unten zusehen und frühstücken.«
»Hmm«, pflichtete ich Paul bei, obwohl man diese Mahlzeit nur mit viel gutem Willen als Frühstück bezeichnen konnte, wie ich beim Blick auf die Uhr an Pauls Handgelenk (Armani) feststellte. Es ging auf Mittag zu. Das hier war ein Spätstück.
Ich konnte kaum glauben, so lange geschlafen zu haben. Seit Colins Flucht war ich zu einer Frühaufsteherin mutiert. Spätestens bei Anbruch der Helligkeit trieb es mich aus den Federn. Auf der anderen Seite hatte ich gestern
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