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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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gerade appetitlich ausgesehen. Doch damals hatte er lediglich Hunger gehabt und sich vor Tessa und sich selbst geekelt. Jetzt war er krank und hochgradig gefährlich dazu. Vielleicht starb er, vielleicht aber saugte er uns aus, weil er nicht anders konnte. Ich wusste nicht, ob die Fesseln hielten, und was noch viel enervierender war: Ich wusste nicht, was überhaupt mit ihm geschehen war. Was hatte François ihm nur angetan, nachdem ich zurück zum Haus geschwommen war?
    »Nein«, widersprach ich Tillmann bitter. »Kein Déjà-vu. Es ist viel schlimmer.«
    Wieder bäumte sich Colins Körper unter einem schauerlichen Stöhnen auf, doch ich hielt ihn fest.
    »Warum tust du das?«, fragte Gianna, während Tillmann die zweite rote Ampel überfuhr und hupend ein paar schimpfende Nachtschwärmer verscheuchte. »Wieso hältst du ihn? Er ist ...« Sie fasste sich an die Schläfen. »Ich weiß nicht einmal, wie ich es beschreiben soll. Und ich kann eigentlich immer alles beschreiben.«
    »Weil ich nicht anders kann«, flüsterte ich und wartete schlotternd, bis Tillmann ohne Zwischenfälle die Autobahn erreicht hatte und das Gaspedal durchdrückte. Erst dann wagte ich, tief zu atmen und zu hoffen, dass tatsächlich alles gut werden würde, obwohl ich genau spürte, dass das Gift Colin nach und nach zerstörte, bis die Bestie freiliegen würde und der Mensch in ihm sich aufgelöst hatte.

Wolfsheim
    Nach einer halben Stunde ließ ich Colin allein. Ich hatte das Gefühl, es ihm mit meiner direkten Anwesenheit schwerer und nicht leichter zu machen - ganz anders als damals nach dem Kampf mit Tessa, als ich seinen Ekel hatte lindern können. Außerdem war ich bis auf die Knochen durchgefroren und es wurde auch niemand davon glücklich, wenn ich in ein paar Tagen an einer Lungenentzündung dahinsiechte.
    Gianna und Paul waren eingedöst - eine erschöpfte, oberflächliche Ruhe. Als ich über sie hinüber nach vorne auf den Beifahrersitz kraxelte, begann Gianna im Halbschlaf zu beten. Ein bisschen Gottesbeistand konnte nicht schaden, dachte ich opportunistisch. Vielleicht hörte er auf Italienerinnen besser als auf mich.
    Ich schnallte mich vorschriftsmäßig an, denn Tillmann fuhr wie der Teufel. Mehr als hundertachzig Sachen schaffte der Volvo nicht, ohne dass der Wagen gefährlich zu zittern begann, doch Tillmann sah nicht ein, das Tempo auch nur um einen Stundenkilometer zu drosseln. Zum Glück waren die Autobahnen wie leer gefegt und wir kamen gut voran. Trotzdem war es ein Kampf gegen die Zeit.
    Colin war kein Vampir, er konnte die Sonne sehr wohl ertragen. Er mochte sie nur nicht und es machte die Menschen müde, wenn sie ihm bei Tageslicht begegneten. Darin lag das eine Problem. Das andere bereitete mir jedoch größere Bauchschmerzen. Wölfe waren nachtaktiv. Sie würden am leichtesten vor Sonnenaufgang zu finden sein. Und wir konnten nun mal besser in ein abgesperrtes Gelände einbrechen, wenn es noch dämmrig war und außer uns niemand unterwegs. Laut Gianna war der Truppenübungsplatz nicht eingezäunt - genau deshalb hatten sich die Wölfe überhaupt auf dem Gelände ansiedeln können. Wir mussten lediglich eine Schranke überwinden und das sollte im Bereich des Machbaren liegen. Falls wir Sachsen denn heil und früh genug erreichten.
    Jetzt kam ich mir wirklich vor wie Van Helsing in Bram Stokers Dracula, wie er versuchte, Mina vor dem Unvermeidlichen zu bewahren, und gegen die aufgehende Sonne anritt, während das Monster in ihr sich seinen Weg bahnte. Aber auch Mina hatte Dracula geliebt, wie ich Colin liebte, obwohl ich es einmal mehr nicht verstand. Ganz langsam manifestierte sich in meinem Kopf, wovon die anderen ständig geredet hatten: Er hatte mich brutal getreten und geschlagen, mich gewürgt, unter Wasser gedrückt. Warum? Und warum hatte er zwei Nächte vor dem Kampf über mir an der Decke gehangen? Mich auf offener Straße angegriffen? Um dann doch François den Garaus zu machen? Noch tangierten mich diese Fragen nicht in dem Maße, dass sie mich aus dem Konzept gebracht hätten, aber es war nicht mehr ganz so fern und abstrakt wie vorhin. Mein Herz jedoch hatten sie noch nicht erreichen können.
    Außerdem waren auch Tillmann gegenüber einige Fragen offen geblieben. Ich nahm einen Schluck Cola und sah ihn von der Seite an. Seine Augen richteten sich auf die Straße, doch ich wusste genau, dass er mit einer Diskussion rechnete.
    »Ich hab noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen«, wählte ich eine möglichst

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