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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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von der Straße abzuwenden.
    »Haha«, brummte ich. »Es wäre quasi Inzest gewesen.«
    Tillmanns Grinsen verbreiterte sich. Dann wurde er wieder ernst. »Ich hab nur das gewusst, was da drin steht. Aber was im Kampf passiert ist und warum du so extrem geworden bist in den letzten Tagen - keine Ahnung.«
    »Hm. Ich dachte, du magst keine Befehle. Dieser Brief strotzt nur so vor ihnen ...«
    »Ich hab nicht grundsätzlich was gegen Befehle. Wenn sie von Menschen kommen, die mich respektieren, und die Befehle Sinn ergeben, befolge ich sie schon. Also - ich wusste, dass du gehen musst, wenn er dich ruft. So habe ich den Brief jedenfalls interpretiert. Aber Ellie - was hat er mit dir gemacht da unten? Du bist so anders als vorher. Du wirst doch nicht etwa - zu einem ...?«
    »Einem Mahr?« Ich lachte auf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich fühle mich ziemlich menschlich. Keine feineren Sinne als sowieso schon, kein Hunger auf Träume und mir tut ganz schön viel weh. Aber es ist mir egal. Mir geht’s gut, ehrlich.«
    »Dormicum«, murmelte Tillmann. »Das erinnert mich an Dormicum.«
    »Wovon redest du?«
    »Kennst du das Zeug nicht? Ich hab das damals bekommen, als ich von einem Bären angefallen worden war und sie mir mit örtlicher Betäubung den Arm gerichtet haben. Die beste Droge, die es gibt. Du hast höllische Schmerzen und stehst brutal unter Schock, aber es ist dir egal. Du fühlst dich gut und stark und rein, nichts kann dich erschüttern. Genau so hast du auf mich gewirkt, als du zu uns kamst nach dem Kampf.«
    »Korrekt«, erwiderte ich kurz angebunden, denn irgendetwas hinter uns lenkte mich ab, obwohl es still im Wagen war. Ich schaute in den Rückspiegel und blickte direkt in Giannas aufgerissene Augen. Paul hing schlafend am Fenster.
    »Hilfe«, formte ihr Mund. »Hilf mir.«
    »Anhalten!«, brüllte ich. Tillmann trat so heftig auf die Bremse, dass der Wagen ins Schleudern geriet, doch er nahm sofort die Füße vom Pedal, und nach einem dramatischen Schlenker fing der Volvo sich wieder. Wären andere Autos auf der Straße gewesen, hätte dieses Malheur das Ende unserer kleinen Reise bedeutet. Doch so brachte Tillmann den Volvo sicher auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Ich wandte mich wieder zu Gianna um, die trotz des Manövers stocksteif sitzen geblieben war.
    »Beweg dich nicht, Gianna. Seine Klauen dürfen deine Haut nicht aufreißen. Du darfst nicht bluten. Okay?« Sie klappte ihre Augenlider zu, um mir zu signalisieren, dass sie verstanden hatte.
    Colins Hand hatte sich in ihre Schulter gekrallt. Ich wusste nicht, ob er schon in ihre Träume vorgedrungen war und der Kontakt seiner Finger überhaupt dazu ausreichte, doch er war ein Cambion. Vielleicht schaffte er es zu rauben, ohne den Menschen an sich zu pressen. Vielleicht war es aber auch nur ein Reflex.
    Ich schob mich auf die Rückbank und löste vorsichtig einen Nagel nach dem anderen aus Giannas Pulli. Sie hatten die feine Wolle zerstört, aber ihre Haut war unversehrt geblieben. Mit roher Gewalt schob ich Colins Hand zurück zu seinem Körper, wo sie sich aus den Fesseln befreit hatte und wahrscheinlich nach oben geschnellt war, ohne dass er etwas dagegen hatte tun können. Schweigend holte ich das Abschleppseil aus der Werkzeugkiste und verknotete es zusätzlich zu den anderen Stricken so fest um seine Gelenke, dass es mir selbst wehtat. Seine schneeweiße Haut riss auf und sofort quoll blaues Blut hervor.
    Entschuldigung, dachte ich und berührte sein Haar. Schreiend fuhr ich zurück. Es hatte mich verbrannt. Rasend schnell bildete sich eine rote Strieme auf meiner Handfläche. Streicheleinheiten waren also keine gute Idee. Ich krabbelte hastig nach vorne auf den Beifahrersitz. Gianna hatte sich flach auf die Rückbank gelegt, zusammen mit Paul, der glücklicherweise erst nach Colins Übergriff aufgewacht war und sie nun beschützend in den Armen hielt.
    »Etwas zu essen wäre jetzt gut«, sagte Tillmann sehnsüchtig, nachdem er den Wagen wieder in Fahrt gebracht hatte. Cottbus tauchte vor uns auf. Immerhin waren wir nicht mehr weit von der polnischen Grenze entfernt. Die Schwärze des Himmels ging in ein trübes Dunkelgrau über. Nein, wir hatten keine Zeit zum Essen.
    »Oh ja«, pflichtete ich ihm dennoch bei. Wir benahmen uns wie in einem Katastrophenfilm. Das Sprechen über Belanglosigkeiten, um ein Gefühl der Verbundenheit zu erzeugen. Ich hatte es so oft gesehen.
    »Bagels«, spielte ich mit. »In Köln gab es einen genialen

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