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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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und auch nicht die Erschöpfung, die sein Lächeln zeichnete, als er sich zu François umgedreht hatte. Es war kein Grinsen mehr, sondern ein Lächeln. Genau das, was François brauchte. Hunger und Erschöpfung zugleich. Wie damals bei Paul. Wenn unser Testlauf schiefging, verlor ich den besten Freund, den ich jemals gehabt hatte.
    Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt gewesen zu beten, doch das, was ich in den vergangenen Minuten erlebt hatte, war so fernab jeden biblischen Gedankens, dass es mir wie Blasphemie vorgekommen wäre. Alles, was ich tun konnte, war, einmal mehr zu hoffen und darauf zu vertrauen, dass Colin wusste, was er tat, als er uns hinuntergeschickt hatte.
    François’ Schritte schmatzten auf dem Kopfsteinpflaster, während er sich Tillmann näherte, doch mein vager Eindruck von eben bestätigte sich. Mehrere Gelenke waren verdreht und ausgekugelt und sein linkes Auge fehlte immer noch. Bei Tessa hätte sich all das längst erneuert. Doch Tessa war ein paar Hundert Jahre älter. Vermutlich ging es bei François langsamer vonstatten.
    Tillmann hingegen lief wie ein Halbgott durch die Nacht, angespannt und kampfbereit, aber auch über alle Maßen verführerisch. Er präsentierte sich. Ich hörte, wie François’ gelber Geifer
    über den Stoff seines Mantels glibberte. Ein gurgelndes Stöhnen löste sich aus seiner zerquetschten Kehle, als Tillmann dicht vor ihm stehen blieb und seine Arme anhob. François hieb seine Klauen schneller in Tillmanns nackten Rücken, als meine Augen sie verfolgen konnten, ein blitzartiges Zupacken, und nur Sekunden später lief dunkles Blut über Tillmanns Schulterblätter. Blut? Jetzt schon?
    Nein, dachte ich erzürnt. Das darfst du nicht - das nicht! Ich drückte die Hand vor meinen Mund, um nicht zu schreien, denn ich wollte François nicht unnötig anheizen oder gar mich selbst in dieses abstoßende Paarungsspiel verwickeln. Wie nur konnte ich Tillmann helfen, ohne die Situation zu verschlimmern? Colin rufen, der mit Schaum vor dem Mund an der Decke hing und aussah wie die abgeschmackte Fantasie eines wahnsinnig gewordenen Horrorfreaks?
    Aber was sollte der schon tun? François wollte Tillmann verwandeln! Es war seine Form der Rache. Er wollte Tillmann zu seinem Gefährten machen. Und offenbar geschah es bereits, denn Tillmann wehrte sich nicht. Er ruhte regungslos in François’ Umklammerung, während das schauerliche Saugen einsetzte und François Tillmanns Lenden immer wieder rhythmisch an sich presste.
    Es dauerte viel zu lange. Selbst wenn Tillmann sich jetzt wehrte und befreien konnte - ein Mensch würde er nie mehr werden. Mit etwas Glück ein Halbblut, aber auch das lag im Bereich des Unwahrscheinlichen. François war stärker als der Mahr, der Papa überfallen hatte. Vor allem aber hatten wir ihn maßlos provoziert.
    Trotzdem rannte ich auf die beiden zu und streckte schon meine Hände aus, um Tillmann wegzuziehen, als François’ hypnotisches Saugen sich jäh zu einem grellen, aber frappierend menschlichen Schrei aufblähte und meine Gedanken in sich zusammenfallen ließ. Ungläubig schaute ich auf die Hauswände, an deren Fenstern und Erkern nach und nach die Spots ansprangen. Der Nebel begann sich zu verflüchtigen. Nun hörte ich auch den Verkehrslärm aufbranden; ein sanftes, beruhigendes Rauschen. Es roch nach Meer und Benzin. Die Wand war durchbrochen.
    Weil François satt war und schließlich bekommen hatte, was er wollte? Oder ...?
    Tillmann griff locker zur Seite und löste François’ Arme. Die Klauen rutschten kraftlos von seinem blutigen Rücken. François schrie erneut, aber nun war es nur noch das wahnwitzige Rufen eines Geisteskranken, leer und hohl. Auch dieser Laut jagte mir einen Schauer über den Nacken, doch er war nicht mehr gefährlich. Allenfalls gruselig. Tillmann trat einen Schritt zurück. Der dritte Schrei endete in einem rasselnden Stöhnen. François sackte nach vorne, die Arme immer noch erhoben, die Klauen nunmehr sinnlos, und sah sich mit flackerndem Blick um, nach wie vor gierig und hungrig, aber blind, bevor er sich schwerfällig umdrehte und in Richtung Stadt humpelte.
    »Ich bin okay«, sagte Tillmann tonlos, als er wieder neben mir stand und wie ich auf den schmalen Durchgang schaute, in dem François im Schatten der Häuser verschwunden war. »Er hat es versucht, aber ...« Er hob die Schultern.
    »Du blutest«, erwiderte ich warnend und wusste nicht, ob ich weglaufen oder seine Wunden untersuchen wollte.
    »Ich weiß.

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