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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Dort leben mehrere Rudel. Am Kraftwerk Boxberg. Ich hab mal drüber geschrieben.«
    »Hoffentlich pro Wolf«, knurrte ich und zwängte mich in meine Chucks.
    »Ich bin Journalistin. Ich schreibe weder pro noch kontra.«
    »Gianna!« Ich hätte sie gerne quer durch das Zimmer geprügelt. »Wir haben keine Zeit zum Streiten, es geht um jede Minute. Ich dachte, du willst noch nicht sterben!«
    Colin ließ sich von der Decke fallen und wälzte sich vor meine Füße. Ich konnte seinen Fingernägeln beim Wachsen zusehen und auch sie schimmerten bläulich. Sie mussten Glas zerschneiden können. Seine rechte Hand zuckte, als ich mich zu ihm hinunterbeugen wollte. Alarmiert fuhr ich zurück.
    »Lasst mich das machen«, bat ich Gianna und Paul, der mir inzwischen die Seile gebracht hatte. Mir entging nicht, dass er sich ein großes Messer in die Gürtelschlaufe gesteckt hatte. »Ich kann ihn besser einschätzen als ihr. Wenn er mich packt, müsst ihr mich wegziehen, okay?«
    Paul schüttelte entgeistert den Kopf und Gianna kaute angespannt auf einer ihrer dunklen Haarsträhnen herum, doch sie widersprachen nicht.
    Ich arbeitete schnell und konzentriert, musste aber immer wieder zurückweichen, weil Colins Arme nach mir greifen und mich zu ihm ziehen wollten - und gleichzeitig musste ich Paul davon abhalten, mich von Colin wegzuschleppen. Ich brauchte all meine Kraft, um die Stricke festzuzurren. Colins Körper fühlte sich an, als wäre er aus Stein, und war so eisig, dass meine Fingerkuppen vor Kälte brannten, wenn ich versehentlich seine Haut berührte. Ich fesselte seine Hände über Kreuz auf dem Rücken. Die Beine band ich vom Knie ab nach oben und ebenfalls über Kreuz. Die ganze Zeit über blieben Colins Lider gesenkt und von seinem Gesicht war keine Regung abzulesen.
    Zu viert trugen wir ihn in den Aufzug, fuhren hinunter und bugsierten unsere gefährliche Fracht in den Kofferraum des Kombis. Mein tierisches Gruselkabinett war eine liebliche Puppenstube im Vergleich zu dem gewesen, was ich nun transportieren würde.
    »Wer fährt?«, fragte Paul. Er klang traurig und geschockt, auch wenn er mit aller Kraft um Fassung rang, weil er offenbar immer noch überlegte, wie er meinen Freund töten sollte.
    »Tillmann«, entschied ich. »Wir müssen schneller fahren als erlaubt, um es bis morgen früh zu schaffen.«
    Gute fünf Stunden hatte das Navi angegeben. Bei Tempo hundertdreißig. Und tagsüber. Es war Viertel nach eins. Ich wunderte mich, dass der Kampf nicht mehr Zeit in Anspruch genommen hatte. Trotzdem würde es eng werden. Wir mussten rasen. Anders ging es nicht.
    »Tillmann hat keinen Führerschein und damit nichts zu verlieren.«
    Ich kletterte zu Colin in den Kofferraum. Auch mich grauste es vor seinem Anblick, aber noch immer konnte ich das darin erahnen, was ich liebte. Tillmann setzte sich kommentarlos ans Steuer; Gianna und Paul krochen auf die Rückbank.
    »Geht es?«, fragte ich Paul. »Du kannst hierbleiben. Du musst nicht mitkommen. Gianna auch nicht.«
    »Doch«, murmelte er. »Ich muss. Ich lass dich doch nicht mit dem alleine. Mensch, Ellie!«
    »Und dann muss ich auch«, ergänzte Gianna schicksalsergeben.
    Pauls Augen hingen an mir, nicht an ihr. Es war Paul immer schwergefallen, sich für etwas zu entschuldigen, auch wenn er ganz klar Mist gebaut hatte und es wusste. Meistens hatte er sich darum herumgewunden. Er konnte es einfach nicht und das war auch jetzt noch so. Sein Blick jedoch sagte alles. Mir genügte es. Außerdem war seine Reue getrübt von tausend Vorwürfen und ich konnte mir denken, wie sie lauteten. Mein Verstand gab ihnen recht, mein Herz aber hörte nicht auf sie. Es war richtig, was ich hier tat, und es war richtig gewesen, Colin zu trauen. Noch fühlte ich mich stark und frei und unverletzt. Also konnte ich handeln - und das mussten wir.
    Tillmann startete den Wagen. Ein heiseres Stöhnen löste sich aus Colins Brust, als er anfuhr, und wir hielten die Luft an. Bang starrten Gianna und Paul zu mir auf die Ladefläche. Ich griff nach Colins Körper und schob seinen Kopf auf meinen Schoß. Sofort überzogen sich meine Arme mit Gänsehaut und mein Pulli wurde klamm.
    »Halte durch, nur noch ein paar Stunden. Es wird alles gut«, flüsterte ich.
    »Das kommt mir so verdammt bekannt vor«, grummelte Tillmann. »Déjà-vu.«
    Ich verstand, worauf er anspielte. Unsere gemeinsame Fahrt zur Klinik meines Vaters. Auch in dieser Nacht hatte ich Colin im Arm gehalten und er hatte nicht

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