Scherbenmond
Aber es hat nichts bewirkt. Es war ekelhaft, doch in mir blieb alles so wie vorher. Ich musste gar nichts machen.« Tillmann klang beinahe enttäuscht. »François hat die Fähigkeit verloren zu rauben, glaube ich. Und nun versucht er es bei jemand anderem. Kann das sein?«
Ich schwieg. Wenn es so war, hatte Colin etwas mit ihm getan, von dem ich keine Ahnung gehabt hatte. Und ich konnte mir auch nicht zusammenreimen, wie er es vollbracht haben sollte. Ob es purer Zufall gewesen war? Oder Absicht? Wie auch immer - Colin befand sich in einem miserablen Zustand. Ich musste Tillmann glauben, dass er nicht verwandelt worden war, und mich um Colin kümmern. Wenn wir noch länger hier in der Kälte standen und redeten, brachte ich Gianna und Paul in Gefahr, indem ich sie mit ihm allein ließ. Denn Hunger würde er haben. Großen Hunger.
Gianna und Paul verharrten immer noch in der Ecke des Zimmers. Sie waren erleichtert, uns zu sehen und zu hören, dass François besiegt war - zumindest nahmen Tillmann und ich das an -, aber noch größer war ihre Furcht und ihr Unverständnis mir gegenüber.
»Ich will jetzt nicht über meine Beziehung reden!«, schnitt ich Paul das Wort ab, als er erneut versuchte, mich dazu zu überreden, einfach abzuhauen und meinen gewalttätigen Freund zu vergessen. »Bitte! Wir können später darüber sprechen, aber jetzt nicht, uns allen zuliebe, hast du das verstanden?«
Ich spürte, dass meine Augen blitzten und die Stärke, die ich in mir lodern fühlte, nach außen strahlte und mich wie ein glühender Fächer umgab. Beklommen wich Paul vor mir zurück.
»Gut. Danke schön«, sagte ich höflich.
Colins Verfassung hatte sich während meiner Abwesenheit dramatisch verschlechtert. Nun erinnerte er mich wirklich an eine Kellerspinne, die gerade erst zertreten worden war und deren Beine noch zuckten. Das Rauschen in seinem Körper hatte sich in ein dumpfes, gequältes Dröhnen verwandelt, dessen Frequenz kaum zu ertragen war. Sie brachte mein Trommelfell zum Flattern. Aber er hatte seine Augen geschlossen und sein Gesicht war kalt und hart. Er bemühte sich mit aller Macht, uns nichts anzutun.
»Bleib bei den anderen«, befahl ich Tillmann. Erstaunlicherweise gehorchte er ohne Murren. Ich wartete ab, ob Colin mir etwas sagen wollte, doch mein Kopf blieb leer. Entschlossen trat ich an das Fenster und schaute zu ihm nach oben an die Decke.
Deine Stirn ... gib mir deine Stirn, Colin, bat ich ihn stumm. Wie eine Spinne am Faden sackte er ein Stück nach unten und ich unterdrückte den Schauder, der mich von ihm wegtreiben wollte. Behutsam legte ich meine Brauen an seine. Seine Haut war so kalt, dass ich erzitterte.
Ich sah etwas, als ich meine Augen schloss, undeutlich und schwarz-weiß, nur Schemen, aber ich wusste sie sofort zuzuordnen, ihre langen, behänden Läufe, ihre starken Nacken, ihre feinen, schnobernden Nasen. Keine Wale. Sondern Wölfe. Er wollte nicht ans Meer, er wollte in den Wald. Ich sah nicht nur einen Wolf, sondern mehrere.
Colin brauchte Wölfe und er brauchte sie schnell. Nun durfte ich endlich wieder etwas tun, wozu ich meinen Verstand und meine Vernunft einsetzen konnte.
»Gianna, geh an Pauls Laptop und finde heraus, wo das größte Wolfsrudel in Deutschland lebt. Schnell! Paul, hol mir alle Stricke und Seile, die du hier finden kannst, von mir aus auch Gürtel. Wir müssen ihn fesseln. Tillmann, fahr den Wagen vor. Pack etwas Proviant für uns ein und das Navigationssystem.« Colin würde nicht mehr in der Lage sein, uns zu leiten. Seine telepathischen Fähigkeiten verkümmerten. Er wollte nur noch fressen.
»Du willst ihn also fesseln. Wenigstens etwas«, kommentierte Paul und hustete angestrengt Schleim aus seinem Hals. Gesund klang er immer noch nicht.
»Wolfsrudel? Aber ... warum geht er nicht in den Zoo?«, fragte Gianna und schaute Colin an, als sei er ein stinkender Schimmelpilz, den sie am liebsten mit einem großen Tuch und einer Extradosis Desinfektionsspray von der Decke gewischt hätte.
»Keine Diskussion jetzt«, blaffte ich sie an, schlüpfte aus meinem zerfetzten T-Shirt und zog den Kapuzenpullover von heute Nachmittag über. »Geh an den Computer!«
Paul war schon in die Werkkammer verschwunden, während Colin gespenstisch langsam von der Decke kroch, und Tillmann rannte bepackt mit Keksen und Cola durch den Korridor.
»Brauche ich nicht«, ätzte Gianna. »Muskauer Heide, Truppenübungsplatz Oberlausitz. Sachsen. Ist nicht gerade um die Ecke.
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