Scherbenmond
Bagelshop. Ich würde einen mit Serranoschinken nehmen. Und Parmesan.«
»Und ich den Caprese. Mit Tomaten und Mozzarella«, schwärmte Tillmann.
»Bagel mit Caprese«, tönte es verächtlich von der Rückbank. »Das ist kein Caprese. Das ist billiger Scheißdreck. Kuhmilchmozzarella.
Lächerlich! Er muss aus Büffelmilch bestehen. Ihr müsstet mal in Italien einen Caprese bestellen ... «
»Werden wir vielleicht noch«, sagte Tillmann so leise, dass nur ich es hören konnte. Ja, wenn das hier glückte, war Italien wahrscheinlich das nächste Ziel. Doch noch wussten wir nicht, wie hoch der Preis für Pauls Leben gewesen war. Colins Blut rauschte so langsam und dröhnend durch seine Venen, dass ich Kopfschmerzen davon bekam. Mahre konnten nur im Kampf gegen einen anderen Mahr sterben. Aber Colin hatte mir nicht gesagt, wie lange dieses Sterben sich dahinziehen konnte. Ich war immer davon ausgegangen, dass es schnell ging. Nun war ich Zeuge eines langsamen Sterbens und ich wusste nicht, ob die Wölfe es überhaupt aufzuhalten vermochten. Am Ende war es nur sein Wunsch gewesen, bei ihnen zu sein, wenn es passierte. Und wenn es so war, dann wollte ich ihm diesen Wunsch erfüllen.
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie es sein würde, wenn wir überlebten, allesamt, und zusammen nach Italien fuhren, um diesen verdammten Caprese zu bestellen. In Italien konnte man nachts leben. Alle taten es. Das wusste ich von Mama und Papa. Wenn wir Glück hatten, fanden wir meinen Vater sogar. Unversehrt. Konnten Tessa genauso unschädlich machen wie François. Befreiten Papa ... Und ich lag in der warmen Abendsonne am Strand und ließ die Wellen über meinen Körper schwappen ...
Der Wagen kam ruckartig zum Stehen. Stöhnend richtete ich mich auf und blickte auf eine rot-weiße Schranke, deren Schloss gerade von Tillmann mit derben Schlägen gesprengt wurde. Wir waren da! Und Colin? Ich drehte mich um und schaute nach hinten. Seine Haut bestand nur noch aus Adergeflecht, seine Lippen waren fast vollkommen verschwunden. Die Augen mochte ich mir gar nicht erst ansehen. Zum Glück hielt er sie geschlossen. Immer noch. Oder waren sie zu, weil er schon tot war?
Tillmann stieg wieder ins Auto und bretterte durch die geöffnete Schranke.
»Wo soll ich denn jetzt hin?«, fragte er fahrig. »Dieses Gelände ist riesig.« Er war hoffnungslos übermüdet. Für einen Moment bereute ich es, das Kokain aus dem Fenster gepustet zu haben.
»Fahr einfach in den Wald hinein, fernab der Absperrungen, möglichst weit weg von den Menschen.«
»Welchen Menschen?«, fragte Tillmann spöttisch. Die Heidelandschaft lag unberührt vor uns. Kiefernwälder, dazwischen Sandpisten mit Panzerspuren, hier und da lugte ein Hochsitz aus den Baumspitzen hervor. Links von uns ragten die wuchtigen Türme des Kraftwerks in den dunstigen Morgenhimmel. Dicke Wolken quollen aus ihren Schlünden. Im Osten verfärbte sich der Horizont bereits rötlich. Ich ließ Tillmann noch ein paar Hundert Meter zurücklegen, bis wir rundum von Wald und Heide umgeben waren.
»Stopp«, sagte ich. Holpernd kamen wir zum Stehen. Vor uns jagte ein aufgeschreckter Hase durch die niedrigen Büsche und Sträucher.
Ich stieg aus. Wohltuende Ruhe umfing mich - kein Großstadtlärm, keine Autogeräusche und auch das gedämpfte Wummern des Kraftwerks konnte nicht bis hierher Vordringen. Die Vögel sangen, ein fast dschungelartiges Tschilpen und Zwitschern, und begrüßten den Frühling. Es würde ein warmer Tag werden - mit einem Hauch von Sommer. Doch noch schoben sich dichte, pilzförmige Wolken vor die aufgehende Sonne und bewahrten die Dämmerung. Ich atmete die würzige, klare Luft der Heide ein. Sie belebte mich augenblicklich. Nur das Rufen der Wölfe fehlte.
Tillmann war mir nachgekommen und schaute wie ich auf den dunklen Waldsaum.
»Und, glaubst du, sie sind hier?«, fragte er mit ehrfürchtig gesenkter Stimme.
»Irgendwo werden sie schon sein. Ich hoffe nur, er kann sie finden.«
Wir weckten Gianna und ließen Paul ruhen - zum einen, weil er den Schlaf brauchte, und zum anderen, weil ich keine Muße für weitere Beziehungsdiskussionen hatte. Gianna war sofort bei sich; ihr Schlaf war leicht gewesen und anscheinend nicht sehr erholsam. Sie wirkte zerknittert. Auch Paul sah gezeichnet aus, obwohl er offenbar nicht von schlechten Träumen geplagt wurde. Er hatte sich beim Liegen auf der Rückbank hoffnungslos die Frisur ruiniert und das viele Nachdenken der vergangenen
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