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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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erstaunliche Kreativität an den Tag, wenn es darum geht, anderen die Existenz ihrer Dämonen zu belegen. Sie sehen diese Dämonen ja auch. Hast du denn Beweise, Ellie?«
    Ich ließ mich erschöpft nach hinten sacken und schloss für einen Moment die Augen.
    »Was für Beweise?«, fragte ich matt. Colins Briefe zählten sicherlich nicht, weil ich in Pauls Augen längst so schizoid war, dass ich sie ebenfalls selbst verfasst hatte. Wie Papa seine Notizen. Außerdem lagen sie zu Hause auf dem Schrank.
    »Hast du ein Foto von diesem Colin oder dieser - Tessa? Eine Filmaufnahme?«
    »Meinst du im Ernst, ich hab noch ein Bildchen von Tessa geschossen, bevor sie versucht hat, Colin zu töten? Nein, ich habe keine Fotos. Und auch keine Filme.« Und dabei hätte ich doch so gerne nur ein winziges schlechtes Schwarz-Weiß-Foto von Colin gehabt. So gerne.
    »Hat euch jemand zusammen gesehen und erlebt? Hat jemand diesen Kampf gesehen, von dem angeblich deine Wunde stammt? Kann ihn jemand bezeugen?«
    »Nein«, antwortete ich dumpf. »Nur ich kann es. Ich war dabei. Ich hab gesehen, wie er ihr die Knochen gebrochen hat und sie binnen Minuten wieder zusammenwuchsen, einer nach dem anderen ... Ich hab es gesehen, Paul, und ich träume jede Nacht davon.« Nun weinte ich. Wie hatte ich nur davon ausgehen können, dass er mir all das glaubte? Es klang haarsträubend. Warum haben Verrückte eigentlich immer wirre Haare?, fragte ich mich. Seitdem ich Colin kennengelernt hatte, waren meine nicht mehr zu bändigen. Und ich hatte noch keinen Film gesehen, in dem ein Wahnsinniger ordentliches Haar hatte. Für Paul musste alles wie ein völlig logisches Puzzle zusammenpassen.
    Ob ich ihm von Tillmann erzählen sollte? Er hatte mich und Colin gesehen und er hatte Tessa erlebt. Doch er schwieg sie tot, genauso wie Mama und Papa sie totgeschwiegen hatten, nachdem Colin geflohen war. Sogar ihn hatten sie totgeschwiegen. Über all das, was im Sommer geschehen war, hatten sie nie wieder ein Wort verloren und ich war ihnen anfangs sogar dankbar dafür gewesen.
    Paul griff nach meinen schlaff herunterhängenden Händen und zog mich zu sich auf den Boden. Ich ließ es willenlos mit mir geschehen. Mein Kopf rutschte schwer gegen seine Schulter, als er mich in seine Arme nahm.
    »Schick mich nicht weg, Paul, bitte«, bat ich ihn erstickt. »Ich bin nicht verrückt«, setzte ich hinzu und hätte mich im gleichen Moment dafür ohrfeigen können. »Ich bin nicht verrückt« war der beliebteste Satz in jeder geschlossenen Anstalt, dicht gefolgt von »Ich gehöre hier eigentlich nicht her« und »Ich komme bald raus«. Das wusste ich von Papa. Kein Psychiater ließ sich von diesen drei Mantras auch nur im Geringsten beeindrucken.
    »Ist ja gut«, murmelte Paul in meine Haare hinein und wiegte mich hin und her wie ein Kind. »Ich sag ja, das war alles zu viel für dich. Der Umzug, die neue Umgebung und dann ist auch noch Papa abgehauen. So etwas kann ausreichen, um einen ersten Schub auszulösen.«
    Ich biss mir auf die Zunge, um ihm nicht zu widersprechen, und schmeckte Blut. Jeder Widerspruch war nur ein weiteres Indiz für meine frisch attestierte Persönlichkeitsstörung.
    Nach einer Weile schob ich Pauls Arme weg, richtete mich auf und gab mir Mühe, mich so normal wie möglich zu benehmen.
    »Ich möchte gerne ein bisschen allein sein. Ist das in Ordnung?«
    Paul nickte und versetzte mir einen zarten Klaps in die Kniekehlen. »Schau mal, wie schön«, sagte er lächelnd und deutete zum Fenster.
    Ja, die kunstvolle Beleuchtung der Speicherstadt war mir gestern schon aufgefallen. Doch jetzt fehlte mir jeglicher Sinn dafür. Außerdem empfand ich sie als bedrohlich. Die dunklen Ecken der hoch aufragenden Backsteingebäude erschienen mir durch die Lichtschimmer an den Dächern und Fassaden noch schwärzer und das Wasser noch tiefer.
    »Ja, schön«, bestätigte ich beklommen und hastete durch den Flur zu Pauls Spielzimmer.
    »Eine antike Amputiersäge zum Geburtstag«, fauchte ich wütend, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. »Schädel von toten Katzen mit getrockneten Hirschkäfern in den Augenhöhlen. Und dazu ein Frosch in Alkohol. Wer bitte ist hier bekloppt? Du oder ich, Bruderherz?«
    Schnaufend zerrte ich den Koffer unter dem Bett hervor. Ich würde packen und morgen abreisen. »Sorry, Papa. Auftrag gescheitert.«
    Ich ließ die Verschlüsse aufklappen und begann im selben Moment, irr zu kichern.
    »Haha. Der Koffer ist ja noch

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