Scherbenmond
Tessa selbst, die in diesem Nirgendwo auf mich wartete, vielleicht schon hinter einer der Dünen lauerte, um mich zu packen, sobald es dunkel wurde?
Ja, ich war neugierig, und obwohl ich die offene See fürchtete, konnte ich meine Blicke kaum von ihr abwenden. Aber ich wollte auch noch ein bisschen leben. Ich machte kehrt, um zurück zum
Auto zu rennen, doch eine plötzliche Böe trieb mir Schnee und Sand ins Gesicht. Ich konnte nichts mehr sehen, hatte binnen Sekunden die Orientierung verloren. Ich stopfte das Handy in die Jackentasche und ließ den Hammer fallen. Mit beiden Händen rieb ich meine Augen, um den Sand aus ihnen zu entfernen, bevor er sich unter die Kontaktlinsen schieben konnte. Tränen schossen über meine Wangen und wurden vom Wind in Abertausend Wassertröpfchen zerrissen.
Dann, mit einem Mal und vollkommen unvermittelt, legte sich der Sturm, als werfe er sich vor einer höheren Macht nieder, und ich sah von fern das pechschwarze Pferd, das durch die Gischt preschte und sich mir unaufhaltsam näherte. Ein Reiter schmiegte sich an seinen Hals, den Kopf gesenkt, das Haupt bloß, die Arme nackt. Nackt und weiß.
Ich konnte seine Haut riechen.
Ich wandte mich ab und begann zu rennen, mit zusammengebissenen Zähnen und tränenden Augen gegen den sich von Neuem aufbäumenden Wind, und die Brandung hinter mir schrie und brüllte, als ginge es um ihr Leben. Doch die Angst und meine wild wirbelnde Hoffnung raubten mir jegliche Kraft. Ich stürzte vornüber in den nassen Schnee, rollte mich um die eigene Achse, kämpfte mich wieder hoch, um erneut vom Wind zu Boden gedrückt zu werden. Er machte es mir unmöglich zu fliehen. Ich konnte nur hier kauern und das geschehen lassen, wovon ich doch eigentlich so lange geträumt hatte. Es wurde wahr - ganz anders als erhofft, doch es wurde wahr.
Ich kniete mich in den Schnee, fest entschlossen, dem entgegenzusehen, was mich erwartete, die Augen tränend, meine Haare zerzaust, mein Puls ein Trommelfeuer.
Das Pferd hielt direkt auf mich zu. Wie hypnotisiert streckte ich meine Arme aus, obwohl ich vor Panik schlotterte, und ließ mich nach oben ziehen, weil es keine andere Möglichkeit gab, als genau das zu tun. Mein Herz verbot mir jedwede Alternative. Und mein Körper hatte mir seinen Dienst verweigert, sobald meine Augen ihn erblickt hatten.
»Verfluchte Scheiße, muss das immer so dramatisch sein mit dir?«, schrie ich ihm ins Ohr und ein Lächeln huschte über seine kantigen Wangenknochen.
»Es muss«, drang seine samtene Stimme in meinen Kopf, ohne dass er den Mund bewegte. Dann schlang sich sein nackter Arm um meine Hüfte und Louis’ Hitze kroch in meinen Bauch und flackerte durch meine Venen. Louis’ Hitze? Oder kam sie von Colin? Hatte er lange genug auf seinem Pferd gesessen, um sich wie ein Mensch anzufühlen?
In vollem Galopp preschte der Hengst den Strand entlang, rechts von uns das Meer, links die Dünen, außer uns dreien keine Seele weit und breit. Ich heulte und lachte gleichzeitig. Ich hatte immer noch Angst vor diesem verdammten Pferd und natürlich musste Colin es über die Buhnen vor Westerland springen lassen, eine nach der anderen, warum auch nicht, schließlich saß ja nur seine pferdephobische Freundin mit im Sattel - ein bisschen Spaß muss sein.
Kurz vor der Strandpromenade wendete er Louis und trieb ihn nach einigen Hundert Metern hinauf in die Dünen und entlang verschlungener Pfade. Aus dem Galopp wurde ein Trab, der meine Innereien neu sortierte und mich allzu deutlich meines leeren Magens bewusst werden ließ, bis Colin Louis an einer schneegeschützten Stelle abrupt zum Stehen brachte. Mit einer einzigen Bewegung sprang er aus dem Sattel und zog mich in den Sand hinab. Meine Füße waren taub vor Kälte, und als ich sie aufsetzte, fühlten sie sich an wie zwei schwere Eisenklötze, die nur zufällig an meinen Knöcheln hingen. Ich hatte keine Kontrolle mehr über sie. Verdutzt sah ich mir dabei zu, wie ich seitwärtskippte.
»Ich kann nicht stehen«, bemerkte ich atemlos, doch Colin hatte kein großes Interesse daran, dass ich stand. Er drückte mich rücklings auf den feuchten Grund, bis sein Gesicht dicht vor meinem war. Ich wollte meine Hände heben, um ihn zu berühren und endlich glauben zu können, dass es wirklich geschah, aber sie blieben starr neben meinen Ohren liegen. Colins Kohleaugen versenkten sich brennend in meine.
»Träumst du, Ellie? Kannst du noch träumen?«, fragte er mich eindringlich und strich
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