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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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röhrte, öffnete ich nachlässig Mamas Umschlag. Ja, er sah offiziell aus, aber offizielle Briefe hatten in der Regel Absender, was diesem hier definitiv fehlte.
    Bestimmt war es irgendeine Gewinnbenachrichtigung oder Lotteriewerbung, der ein möglichst seriöses Aussehen verliehen worden war, um - nein. Nein. Es war etwas gänzlich anderes.
    »26. Februar y Sylt, Wanderdünen am Ellenbogen, bei Sonnenuntergang.« Mehr stand nicht auf dem Blatt Papier. Die Schrift gab mir auch keinen Hinweis auf den Verfasser. Die Worte stammten unverkennbar von einer alten Schreibmaschine, bei der das S nicht einwandfrei funktionierte. Der Poststempel war unleserlich und die Briefmarke hatte sich durch den Zwangsaufenthalt im feuchten Briefkasten beinahe aufgelöst. Sie wirkte exotisch auf mich, aber sie half mir nicht weiter.
    Mit weichen Knien ließ ich mich auf den nächstbesten Stuhl sinken. Der 26. Februar war heute. Hatte Papa auf Sylt nicht mal eine seiner »Konferenzen« gehabt? Ich erinnerte mich daran, was Colin mir über beliebte Aufenthaltsorte von Mahren gesagt hatte. Sie lebten gerne an Plätzen, die automatisch für einen ständigen Menschennachschub und -austausch sorgten und wo Mahre nicht weiter auffielen. Ich war noch nie auf Sylt gewesen, hatte jedoch oft genug Reportagen über die Insel im Fernsehen gesehen, um zu wissen, dass sie ein solcher Platz war. Ein ideales Mahrrevier. Außerdem war diese Nachricht mit einer Schreibmaschine getippt worden. Viele der alten Mahre blieben irgendwann in ihrer Entwicklung stehen, beherrschten die moderne Technik nicht mehr - und oft versagte sie in ihrer nächsten Nähe auch. Das dritte Indiz war die genannte
    Uhrzeit. Bei Sonnenuntergang. Die liebste Tageszeit der Mahre, weil es endlich dunkel wurde und ihre Opfer zu träumen begannen.
    »Nein. Nein, das mache ich nicht«, murmelte ich kopfschüttelnd und wusste im gleichen Moment, dass ich es doch tun würde. Jemand wollte mich auf Sylt treffen und ja, die Chancen standen gut, dass es ein gieriger Mahr war, der sich entweder für Papas Verrat oder für meine Verbindung mit Colin rächen und mich anschließend aus Spaß an der Freude komplett leer saugen wollte. Aber es bestand ebenso die Chance, dass es sich bei diesem Mahr um einen der Revoluzzer handelte. Die Revoluzzer waren die »Guten«. Laut Papa gab es sie und Colin hatte dem nicht widersprochen. Ach, was hieß gut - natürlich hatten auch sie Hunger. Doch sie waren wenigstens zur theoretischen Kooperation mit Papa bereit gewesen. Vielleicht stammte die Nachricht von einem dieser guten Mahre und er wusste etwas über Papas Verbleib - oder gab mir einen Tipp, wie ich ihn auslösen konnte.
    Ich musste sofort aufbrechen. Die Tage waren zwar wieder länger geworden, doch wenn ich es bis zur Abenddämmerung schaffen wollte, durfte ich keine weitere Minute verlieren. Ich nahm mir einen Packen Scheine aus der Spardose in der Küche, stopfte Jeans, Pulli, Shirt, meinen Kulturbeutel und frische Unterwäsche aus meinem Koffer in einen Rucksack, fütterte hastig meine Tierchen, krallte mir kurz entschlossen Pauls Porscheschlüssel - den Volvo zu holen würde zu viel Zeit kosten und die beiden Schwuletten waren heute Morgen mit François’ flaschengrünem Jaguar gestartet - und verließ die Wohnung ohne einen Blick zurück.
    »Alter Schwede«, raunte ich respektvoll, als mir die erste rote Ampel Gelegenheit bot zu halten. Der Porsche war eine Höllenmaschine und ich begann, ihn zu mögen. Mein Magen vibrierte im Takt mit dem knurrenden Motor unter mir und aus purer Lust am Angeben ließ ich ihn wild aufheulen und grinste den Mann neben mir an, der sich mit unübersehbarem Neid in den Augen ans Steuer seiner metallicgrauen Familienkutsche krallte. Sobald die Ampel auf Grün sprang, schoss ich auf Nimmerwiedersehen davon. Mir war sehr wohl bewusst, dass ich bei fast jeder Kurve in akuter Lebensgefahr schwebte, doch ich war auf dem Weg zu einem Date mit einem unbekannten Mahr auf Sylt - da stellte der schneeweiße Porsche 911 das deutlich kleinere Gefahrenpotenzial dar. Außerdem hatte er ein perfekt funktionierendes Navigationssystem. Trotzdem bemühte ich mich, nicht schneller als hundertsechzig Stundenkilometer zu fahren und auf nasser Fahrbahn das Tempo zu drosseln, denn das Raubtier, in dem ich saß, reagierte unversöhnlich auf winzigste Schlenker und Unsicherheiten.
    Doch mit jedem neuen Streckenabschnitt - beziehungsweise mit jeder Baustelle, die mich zum Abbremsen

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