Scherbenmond
mir mit seinen kühlen Fingern das Haar aus der Stirn. Kühl, aber nicht kalt. Dieser Schneewinter machte es möglich, dass ein Cambion eine höhere Hauttemperatur hatte als ich. Denn ich bestand aus purem Eis und selbst die lodernde Glut in meinem Bauch konnte diesen Zustand nicht ändern.
»Hast du mich heute Nacht gespürt?«
Nun musste ich reden, so schwer es mir fiel.
»Ich, ähm ... also ...«, stotterte ich verlegen. Ja, ich hatte ihn gespürt, und zwar auf höchst unaussprechliche Weise und fast überall. Gut, um genau zu sein: überall.
Doch wie immer hatten sich bei Anbruch des Tages die messerscharfen Splitter meines Bewusstseins unbarmherzig zwischen die Traumbilder geschoben und die schwebenden Glücksmomente zerstört und ich war lautlos weinend aus meinem Traum erwacht.
»Ellie? Ich habe dich etwas gefragt«, zog Colin mich sanft aus meinen Erinnerungen.
»Äh, ja. Ja, das habe ich«, schloss ich bibbernd und wich seinem Blick aus. »Ich habe dich gespürt. Ein bisschen.«
»Ein bisschen?«, wiederholte Colin amüsiert.
»Ein bisschen viel«, gab ich widerstrebend zu. Mein erstarrter Mund verzog sich zu einem verschämten Grinsen.
»Ich habe mir Mühe gegeben«, erwiderte Colin und ließ seine Zähne blitzen.
»Ja, es war ganz nett«, lobte ich ihn gnädig.
Schmunzelnd zwickte er mich in die Seite. »Du bist mager geworden, Lassie.«
Ich wollte protestieren, weil er mich so nannte, doch dann begriff ich, wie sehr ich es vermisst hatte. Er durfte es. Ich war sein Mädchen. Sein mageres Mädchen.
»Oh, der Winter war nicht so prickelnd, weißt du. Mein Freund und Geliebter ist abgehauen, danach wurden alle krank, ich auch, es hat nur geschneit und gestürmt, ich musste zwischendurch mein Abitur schreiben, mein Vater ist verschwunden ...« Ich wurde schlagartig ernst und auch Colins Lächeln erstarb. »Mein Vater ist verschwunden. Wir haben keine Ahnung, wo er ist.«
»Ellie, ich habe versucht, dich zu erreichen, und das war nicht leicht, weil ich mich am anderen Ende der Welt befand, aber ein paarmal habe ich es geschafft - und ich habe eine Gefahr gespürt.«
»Genauer bitte«, forderte ich knapp.
Doch Colin schüttelte den Kopf. »Ich bringe dich erst zu deiner Ferienwohnung. Es sind nur ein paar Schritte. Da du mit dem Porsche angereist bist, gehe ich davon aus, dass ein Luxusappartement in Kampen genehm ist?«, fragte er mit süffisantem Unterton. Er ließ mich los und wir standen auf, er geschmeidig, ich etwas weniger anmutig.
»Du siehst auch geschafft aus«, stellte ich fest, als ich ihn betrachtete. Geschafft und für mich unfassbar, nein, unerträglich schön, aber sehr blass und ausgezehrt.
»Es war nicht leicht, mich zu ernähren in den vergangenen Monaten. Und das ist es immer noch nicht«, gestand Colin gleichmütig und zuckte mit den Schultern. »Jede Flucht hat ihren Preis. «
»Und jetzt - sind wir denn jetzt nicht in Gefahr? Ich weiß nicht, ob man es mir anmerkt, aber ich bin gerade glücklich und du ... hast auch schon zerknirschter gewirkt.«
Colin lachte kurz auf und griff nach Louis’ Zügeln.
»Später. Wir reden morgen. Ich bringe dich erst zu deiner Wohnung.«
»Morgen? Meine Wohnung? Und was ist mit dir?«, fragte ich verständnislos.
»Ich wohne woanders. Nicht auf der Insel. Hier steht nur Louis. Du hast in dem Appartement alles, was du brauchst, es gibt sogar eine Sauna und ...«
»Abgelehnt«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Das kommt gar nicht in die Tüte. Ich will das Appartement nicht. Nimm mich mit zu dir.«
»Nein, Ellie«, sagte Colin entschieden.
»Hast du vergessen, wer ich bin, während du über die Weltmeere geschippert bist?«, fuhr ich ihn an. »Ich lass mich nicht in irgendeine blöde Bude wegpacken, wenn ich dich gerade erst wiedergesehen habe, nachdem ich mir jede Nacht die Augen ausgeheult habe vor lauter ...« Ich brach ab. Nein, zu viel verbale Streicheleinheiten sollte er nicht bekommen und Geständnisse schon gar nicht.
»Ellie, das ist nicht so einfach, wie du dir es vorstellst...«
»Ach, es war nie einfach mit dir, Colin Blackburn! Du bist der Antipode von einfach! Schwieriger geht’s gar nicht mehr, aber soll ich dir etwas verraten? Ich bin genauso! Deshalb passen wir ja auch so gut zusammen! Alles, was zu einfach und zu fröhlich ist, widert mich an! Ich mag es schwer verdaulich!«
Colin gab sich sichtlich Mühe, das spöttische Grinsen im Zaum zu halten, das sich seiner Mundwinkel bemächtigte, doch es dauerte einige
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