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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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nötigte - gewöhnten wir uns besser aneinander und die letzten vierzig Kilometer Landstraße nach Niebüll zum Autozug waren ein einziges Vergnügen. Außer mir war fast niemand unterwegs und auch das Verladen klappte erstaunlich gut. Ich fuhr auf die Rampe, als hätte ich nie etwas anderes getan, und lächelte dem frierenden Menschen vor mir souverän zu, als er mich an den Vorderwagen heranwinkte. Nur zehn Minuten später setzte sich der Zug in Bewegung und ich musste mir eingestehen, dass ich mir Sylt und den Transfer über die See weitaus romantischer vorgestellt hatte. Blauer und sonniger.
    Der graue Himmel ging nahtlos in das schlammig-schmutzige Watt über und auf der Seite zum offenen Meer hin jagte der Wind schwarze Wolken vor sich her und brachte die Wellenkämme zum Schäumen. Mit deutlichem Unbehagen sah ich dem Naturschauspiel um mich herum zu. Ich fürchtete keine Sekunde lang, dass sich im nächsten Augenblick eine gigantische Welle am Horizont auftürmen würde, aber mit erholsamer Sommerfrische hatte diese Szenerie auch nicht viel zu tun. Die Böen rüttelten unwirsch am Wagendach, als wollten sie mich aus dem Porsche zerren, es waren weder Schafe noch Möwen zu sehen und am allerwenigsten konnte ich fassen, dass Sylt unter einer trübweißen Schneedecke lag.
    Ich stieg gar nicht erst aus dem Wagen, obwohl es noch hell war, sondern machte mich sofort auf den Weg zum Ellenbogen, dem nördlichsten Zipfel von Sylt. Nachdem ich List hinter mir gelassen hatte, wurde es so einsam und der Asphalt so holprig, dass ich kurz anhielt, um durchzuatmen und meinem Herz Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. Doch das tat es nicht. Meinem Herzen und mir gefiel diese Gegend nicht. Nicht einmal bei Sonnenschein, fünfundzwanzig Grad im Schatten und völliger Windstille hätte ich mich hier entspannen können.
    Die Dünen schienen mir lebendig zu sein - nun, das waren sie im Grunde auch, sie wanderten schließlich -, aber ich hatte das Gefühl, dass sie Augen bekamen, sobald ich ihnen den Rücken zukehrte. Sie beobachteten mich, um sich dann auf ein unsichtbares Kommando hin auf mich zuzubewegen und mich genüsslich in ihrer Mitte zu zerquetschen. Ich musste an das Bild denken, das ich bei einer Kunstprüfung interpretiert hatte - Der Mönch am Meer von Caspar David Friedrich. Ich kam mir vor wie der Mönch, nur ohne Gottes Beistand. Das hier war eine gottlose Gegend, ihr fehlte jegliche Geborgenheit. Wenn ich aus meinem Auto stieg, war ich ihr ausgeliefert.
    Ich warf den Motor wieder an und fuhr bis zum letzten Parkplatz am Ellenbogen. Außer der gähnend leeren Parkfläche gab es an diesem Punkt der Insel gar nichts mehr. Keine Häuser, keine Hotels, keine Jugendherbergen. Im Klartext bedeutete das, dass mir niemand helfen konnte, falls ich in Gefahr geriet. Ich war völlig auf mich allein gestellt.
    Doch noch war die Sonne nicht am Untergehen. Ich konnte wenigstens aussteigen, über den Dünenkamm zum Meer hinunterlaufen und es mir ansehen - denn das war es, was ich mir seit Langem wünschte und wovon ich immer geträumt hatte, ob gut oder in letzter Zeit eher schlecht: das offene Meer.
    Ich klammerte mich mit der einen Hand an das Handy und mit der anderen Hand an einen kleinen Hammer, den ich in Pauls Handschuhfach gefunden hatte, und marschierte mit gesenkten Schultern und eingezogenem Kopf durch den tosenden Wind der See entgegen. Ein Hammer war besser als nichts. Ein gezielter Schlag auf die Schläfe konnte vielleicht auch einen Mahr für einige Minuten außer Gefecht setzen. Und das Schlagen hatte ich heute bis zur vollkommenen Zerstörung trainiert. Eine Backsteinmauer, ein Mahrschädel - so groß konnte der Unterschied nicht sein.
    Der Anblick des Meeres erschlug mich beinahe. Wütend rollten die Wellen auf den nassen, verschneiten Strand zu, wirbelten zügellos ineinander, bis die Gischt meterhoch sprühte, salzig und süß zugleich. Der Wind zerrte so unbarmherzig an meinen Haaren, dass ihre Wurzeln zu schmerzen begannen, und die Kälte zog jegliche Empfindung aus meinem Gesicht. Meine Muskeln wurden starr und leblos. Meine Hilfeschreie würde ich nicht hören können, wenn sie meiner Kehle entwichen, und erst recht niemand anderes, denn das Meer übertönte in seinem aufgebrachten Tosen sogar das Heulen des aufkommenden Sturms.
    Das, was ich hier vorhatte, war wider jede Vernunft. Nicht mehr lange, und die unsichtbare Sonne würde im aufgewühlten Meer versinken und was geschah dann? War es am Ende

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