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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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wahrzunehmen. »Bin eingeschlafen ... Ich versteh das nicht ... Ich war weg ... Ich versteh das einfach nicht.«
    Torkelnd richtete er sich auf, den Oberkörper gebeugt und die
    Arme baumelnd wie bei einem uralten Mann, und tapste in kleinen, schweren Schritten zu seinem Schlafzimmer. Kurz darauf klappte die Tür und ich hörte die Federn seines Bettes quietschen. Das Rauschen des Fernsehers dröhnte in meinen Ohren. Ich griff nach der Fernbedienung und schaltete ihn aus.
    »Jeder andere würde nun sagen, dass mein Bruder ein massives Alkoholproblem hat.« Erschöpft setzte ich mich im Schneidersitz auf den Boden und las die Salzstangen auf.
    »Das ist kein Schnarchen. Das ist eine Apnoe.« Tillmann hockte sich neben mich und trank den Rest Wein aus.
    »Apnoe?«, fragte ich müde.
    »Ja, Schlafapnoe. Mein Dad hat das. Sein Atem stockt, wenn er schläft, manchmal richtig lange. Als er deshalb beim Arzt war, hat er eine Maske verschrieben gekriegt. Die muss er nachts tragen. Er sieht damit aus wie Darth Vader, nur ohne Lichtschwert.«
    Tillmann grinste breit und auch ich fand diese Vorstellung höchst vergnüglich. Vor allem aber raubte sie Herrn Schütz den allerletzten Sex-Appeal, den er vielleicht noch irgendwo ganz versteckt in petto hatte. Im Hinblick auf meine Mutter war das ein recht tröstlicher Gedanke.
    Tillmanns Schlussfolgerung jedoch fiel weniger tröstlich aus. »Meinst du, mein Dad ist ebenfalls befallen?«
    Oje. Wir mussten aufpassen, dass wir uns nicht völlig verrückt machen ließen. Es fing bereits an.
    »Tillmann, ich glaube nicht, dass jeder, der diese Atemaussetzer hat, von einem Mahr ausgesaugt wird.«
    Ja, Herr Schütz wirkte manchmal zerstreut und müde, aber ich führte das eher auf seine gescheiterte Ehe und die Querelen mit seiner Exfrau zurück. Außerdem war Tillmann in jeglicher Hinsicht nervenaufreibend. Ihn zu erziehen war eine Lebensaufgabe - falls es überhaupt möglich war.
    »Wie viel Mahre gibt es da draußen eigentlich?«, fragte Tillmann unbehaglich.
    Ich prustete genervt. »Das weiß niemand so genau. Sie sind eben Einzelgänger und werden sich wohl kaum sonntags zum gemeinsamen Kaffeeklatsch samt Volkszählung treffen.«
    »Musst du gleich so zickig werden?«
    »Ich bin nicht zickig! Ich sage nur, dass die Lebensweise der Mahre weitgehend im Dunkeln liegt, und dabei wird es wahrscheinlich bleiben. Sie wollen sich den Menschen nicht zeigen und jagen alleine ... Es können Millionen sein, es können aber auch nur ein paar Tausend oder ein paar Hundert sein. Ich weiß es nicht!«
    Okay, ich war zickig - und zwar deshalb, weil es mich vollkommen verunsicherte, dass die Existenz der Mahre ein Thema war, dem ich nicht mit meinen gewohnten Recherchen in Papas medizinisch-psychologischen Wälzern auf den Grund gehen konnte, wie ich es früher zu tun gepflegt hatte. Alles, was wir an Informationen besaßen, waren die kryptischen Hinweise von Papa, Colins Vermutungen und unsere eigenen Erfahrungen. Das war fast nichts. Und doch erdrückend viel im Vergleich zu dem, was die anderen Menschen wussten - was Paul wusste.
    »Ich schlafe heute Nacht jedenfalls nicht mehr«, beschloss ich. »Kannst du Kaffee aufsetzen?«
    Während Tillmann sich in der Küche nützlich machte, schaute ich nach Paul und drehte ihn auf die Seite, damit er besser Luft bekam, aber sein Atem ging nun ruhig und gleichmäßig und der bläuliche Schimmer um seine Lippen war verschwunden. Er sah jung aus, sehr jung sogar - und doch so alt. Die unsichtbare Last, die auf ihm lag, war schwerer geworden. Ich schloss das Fenster, zog Paul die Decke über seine massiven Schultern und setzte mich zu Tillmann in die Küche.
    »Deshalb bin ich also zwischen zwei und vier immer
    weggeknackt«, sagte er nach einem Schluck Kaffee. »In dieser Zeitspanne ist er hier.«
    Auch ich hatte während der Nächte in Pauls Wohnung oft erstaunlich fest geschlafen, ganz egal, wie viele Sorgen in mir bohrten. Ich erinnerte mich wieder an diese eine diesige Nacht, in der ich aus dem Fenster gekippt war ... Ein eiskalter Schauer rieselte über meinen Rücken.
    »Wir müssen Wache halten«, beschloss ich. »Ein Grund mehr für dich, mit der Kifferei aufzuhören. Wir wechseln uns ab, okay?«
    »Ellie, das wird wahrscheinlich nicht viel nutzen. Wir sind eben eingepennt, von jetzt auf nachher, und ich war noch nie in meinem Leben so wach gewesen wie in dem Moment, als dieses Ding ...«
    »Der Mahr«, unterbrach ich ihn scharf, obwohl ich selbst lieber

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