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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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hatten nicht einmal die Mitte der Wand erreicht. An die Schlagbohrmaschine brauchten wir gar nicht erst zu denken. Die Gefahr war zu groß, dass wir mit ihr erheblichen Schaden anrichteten, und das Haus stand unter Denkmalschutz. Außerdem verursachte eine Schlagbohrmaschine Lärm und Staub im Übermaß. Wir bohrten, hämmerten, klopften und meißelten also mit der Hand und ich hatte bereits Blasen an den Fingergelenken.
    Meine innere Anspannung war kaum mehr zu ertragen. In den
    vergangenen beiden Nächten waren Tillmann und ich irgendwann nach Mitternacht fest eingeschlafen, obwohl wir versucht hatten, uns mit aller Gewalt wach zu halten. Das Erste, was ich morgens getan hatte, war, nach Paul zu sehen. Und sobald Tillmann und er abends nach Hause kamen, begann ich Tillmann auszuquetschen. Wie ging es Paul? Benahm er sich seltsamer als zuvor? War seine Atemnot schlimmer geworden? Angeblich hielt sich Paul wacker. Wie mir in den Wochen zuvor war nun auch Tillmann seine Kurzatmigkeit und sein gestörtes Essverhalten aufgefallen. Außerdem, sagte Tillmann, sei Paul ständig schlapp und müde. Aggressiv war er mir gegenüber nicht mehr geworden, allerdings hatte ich ihm auch keinen Grund mehr dazu gegeben. Tillmann ließ ihn in Frieden; ihn interessierten weder Pauls Liebesieben noch seine beruflichen Prioritäten. Er berichtete jedoch, dass Pauls Geduld an einem sehr dünnen Faden hing, wenn ihm technische Dinge misslangen (und das taten sie oft) oder etwas nicht so funktionierte, wie er sich das vorstellte. Dann konnten schon mal Zollstöcke durch die Gegend fliegen und Pauls Flüche taten ihr Übriges, um Tillmann in Deckung gehen zu lassen. Ja, das war der berühmte Stier in Paul, doch er schien schneller in Rage zu geraten als früher. Ich nahm mir vor, keinen Streit mehr mit ihm anzufangen. Sobald ich an diese hässliche Szene in der Küche dachte, wollte ich nur noch weg hier und das durfte ich nicht. Also versuchte ich, nicht daran zu denken.
    Nachdem Tillmann und ich die allabendliche Paul-Frage geklärt hatten, erzählten wir uns gegenseitig, was wir geträumt hatten, um uns zu beweisen, dass wir nicht ebenfalls ausgesaugt wurden. Doch diese Gespräche fielen ernüchternd kurz aus. Die meisten meiner Träume - chaotisch, wirr, schockierend düster oder bodenlos peinlich - wollte ich Tillmann nicht erzählen und Tillmann selbst träumte lediglich bruchstückhaft - schon immer, wie er mir versicherte. Das sei nichts Neues. Er habe nur selten klare, deutliche
    Träume. Aber die hätten dann auch etwas zu bedeuten. So wie seine Vision vergangenen Sommer, die ihn dazu ermutigt hatte, mir mitten in der Nacht Steine mit Tarotkarten durchs Fenster zu werfen und mich damit fast zu Tode zu erschrecken.
    Noch zwei bis drei Tage, schätzte ich, dann konnten wir die Kamera anbringen. So lange musste ich mich gedulden. Ich hängte das Bild mit der Schlange zurück an die Wand und ging ins Badezimmer, um mich einer letzten Kontrolle zu unterziehen. Die Waschmaschine war mitten in der Nacht im Schleudergang hängen geblieben und ich wurde den unangenehmen Verdacht nicht los, dass es genau dann passiert war, als der Mahr kam. Tatsache jedoch war, dass ich keine vernünftigen Klamotten zur Verfügung hatte. Ich trug einen Schal von Paul und einen grauen Kapuzenpullover von Tillmann. Lediglich die Jeans und die Schuhe gehörten mir, hätten eine Rundumauffrischung aber gut vertragen können. Die Tage, in denen ich meine Jeans allmorgendlich wechselte (denn in unserer Clique war es verpönt gewesen, zweimal hintereinander dasselbe Kleidungsstück zu tragen), waren jedenfalls endgültig vorüber. Meine Haare machten sowieso, was sie wollten. Für ein ausführliches Make-up hatte ich weder Zeit noch Lust. Lipgloss und ein bisschen Tusche mussten reichen. Im Eilschritt lief ich zum Bus.
    Ich hatte nicht den Hauch einer Idee, wie ich Gianna ansprechen sollte. Oder ob überhaupt. Was sollte ich ihr schon erzählen, falls es mir gelang, den Kontakt herzustellen? Hallo, ich bin die Tochter von Leo Fürchtegott, über den Sie mal berichtet haben, und wollte fragen, ob Sie Lust haben, einen Artikel zum Thema Nachtmahre zu schreiben? Ratlos stieg ich aus dem Bus.
    Nein - alles, was ich tun konnte, war, sie zu beobachten und mir ein Bild von ihr zu machen. Vielleicht hatte ich dabei eine Eingebung. Vielleicht war sie mir auch so unsympathisch, dass ich auf dem Absatz kehrtmachte und ihre Visitenkarte bei der nächsten
    Gelegenheit in den

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