Scherbenmond
brauche es zum Schlafen. Ich kann nicht mehr schlafen, Ellie. Ich liege stundenlang wach, bin hundemüde, aber ... meine Gedanken ...« Er deutete auf seinen Kopf, doch seine linke Hand hielt mich unvermindert fest. »Sie kommen nicht zur Ruhe. Dann nehme ich ein, zwei Züge und kann wenigstens ein bisschen dösen. Kein Asthma mehr, aber auch kein Schlaf. Deshalb bin ich so schlecht in der Schule geworden. Ich bin zu müde, um mich zu konzentrieren, sehe aber nicht müde aus, doch das ... das kapiert niemand ...«
Endlich lockerte er seinen Griff. Ich zog meine Finger unter seinen Händen hervor und wischte sie unauffällig an meiner Pyjamahose ab.
»Tillmann, sorry, dass ich dir widersprechen muss. Wenn du das Zeug brauchst, dann bist du süchtig. Das ist die Definition von Sucht.«
»Nein. Wie gesagt, ich tue das nicht wegen des Rauschs. Ich habe keinen Rausch. Es macht mich einfach müde genug, um schlafen zu können. Ich hab alles ausprobiert, Baldrian und warme Milch mit Honig und Spazierengehen und den ganzen Mist, aber nur damit kann ich ein bisschen schlafen. Hier bei euch knacke ich wenigstens zwischen zwei und vier weg, das ist mehr als zu Hause ... Ich will nicht immer wach liegen, verstehst du das? Es macht mich auf Dauer wahnsinnig!«
»Du denkst, es kommt von Tessa, oder?« Ich hockte mich neben Tillmann auf den Boden. Die Dielen waren eiskalt und fühlten sich merkwürdig klamm an, als wären sie erst kürzlich überflutet worden.
»Wovon soll es denn bitte sonst kommen?«
»Wie lange geht das schon so?«
»Na, seit dem Herbst. Ununterbrochen.«
»Oh Gott ...« Er hatte seit dem Herbst nicht eine Nacht durchgeschlafen. Wie hielt er das aus? Wir schwiegen eine Weile, während der Haschischrauch nach draußen zog und die feuchte Luft der Speicherstadt in sämtliche Winkel des Zimmers kroch. Tumb stand ich auf, um das Fenster zu schließen, als plötzlich ein regelmäßiges, ziehendes Plätschern nach oben drang - zu gleichmäßig und langsam, um von einer Ratte zu stammen ... Nein, das, was dort unten das Wasser durchpflügte, war schwerer und größer. Viel größer. Ich hielt inne und auch Tillmann lauschte gebannt.
»Das hört sich an, als ob jemand schwimmt«, sprach Tillmann flüsternd meine Gedanken aus. Ich konnte mich auf einmal nicht mehr bewegen. Mein Arm fiel schlaff herunter. Niemand schwamm freiwillig nachts durch die Fleete. Noch immer hatte das Wasser eisige Temperaturen. Ich wollte Tillmann antworten, doch meine Zunge rührte sich nicht.
»Ellie ... kennst du dieses Gefühl, dass da irgendetwas ist, obwohl du es nicht sehen kannst? Und du bist von einem Moment auf den anderen starr vor Angst? Wie als Kind, wenn du genau weißt, dass ein Monster unterm Bett sitzt, ganz egal, was deine Eltern dir erzählen?«
»Ja«, krächzte ich. Ich wusste zu gut, was er meinte. Da war kein menschliches Leben mehr um uns herum. Die Stadt war tot. Niemand atmete außer uns. Und trotzdem bewegte sich etwas unterhalb des Hauses, erhob sich aus dem Wasser. Kroch die Wand hinauf. Ich hörte seine Krallen, die über die Steine kratzten, wenn es die Arme hob, um den nächsten Meter zurückzulegen. Es näherte sich uns.
»Mach das Fenster zu, Ellie! Ellie!«
Doch ich ließ mich fallen, presste Tillmann an die Wand unterhalb des Simses und drückte ihm meine flache Hand auf die Lippen, damit er keinen Laut mehr von sich gab. Es hatte uns erreicht. Uns trennte nur noch die Mauer des Hauses von ihm. Es befand sich direkt in meinem Rücken. Ein fauliger Geruch zog ins Zimmer und erstickte das würzige Aroma des Tabaks. Ich nahm meine Finger von Tillmanns Mund und griff nach seinem Handgelenk. Ich musste mich irgendwo festhalten, an einem Menschen, an einem Körper, der atmen konnte und lebte. Jetzt hatte ich seinen Puls gefunden; er schlug schnell, aber regelmäßig.
Paul. Oh Gott, Paul, schoss es durch meinen Kopf. Wir müssen zu ihm!
Doch mit meinem nächsten Atemzug brachte das Wesen an der Hauswand alles in mir zum Schweigen. Meine Gedanken verhakten sich und blieben stehen. Tillmanns Puls wurde langsamer. Dann kam die Müdigkeit, so unerwartet und machtvoll, dass unsere Köpfe zur Seite sackten und gegeneinanderschlugen.
Das Letzte, was ich hörte, war das Gurgeln des Wassers unter uns.
Es stieg.
Atemlos
»Ellie!«
Ich fühlte gar nichts. Mein Körper war so schwer, dass es mir unmöglich erschien, meinen kleinen Finger zu heben oder gar zu sprechen. Und wieso sollte ich das auch tun? Es war
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