Scherbenmond
François’ krankhafter Eifersucht nicht immer ein Zuckerschlecken war. Er duldete keinen anderen in Pauls Nähe. Aber wenigstens war Tillmann beschäftigt. Ich kam mir bereits vor wie eine unterforderte Hausfrau, die frustriert auf ihren Mann wartete. Und manchmal benahm ich mich beinahe so. Doch eine Sache hatte ich immerhin angeleiert.
»Ich werde diese Journalistin besuchen, die mein Vater mir als mögliche Vertrauensperson genannt hat. Gianna Vespucci.«
»Noch eine Italienerin ...«
»Ja. Hört sich fast so an. Allerdings ... Ich fürchte, dass mein Vater sich in ihr getäuscht hat. Von wegen Vertrauensperson und Schlafspezialistin. Ich hab ihren Namen gegoogelt. Sie ist Journalistin, aber bei einer Tageszeitung, der Hamburger Morgenpost. Und sie schreibt vor allem über Kulturveranstaltungen. Kabarett, Kindertheater, Ausstellungen - nichts Großes.«
»Dann lade sie doch zu unserer nächsten Vernissage in zwei Wochen ein. Da können wir sie in Ruhe beobachten und haben eine gute Gelegenheit, sie anzusprechen und abzuchecken.«
Nein. Zwei Wochen würde ich hier nicht untätig herumsitzen können und mich Nacht für Nacht von einem Mahr in Tiefenhypnose schicken lassen, während er meinem Bruder den letzten Lebensmut aus der Seele saugte. Ich schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich will sie alleine treffen, je schneller, desto besser. Und ich möchte dabei nicht François in meiner Nähe haben. Der macht mich nervös. Wenn wir Pech haben, vertreibt er sie durch sein Getue, bevor sie Vertrauen zu uns fassen kann.«
»Hm«, machte Tillmann und dieses »Hm« klang mir eine Spur zu vieldeutig.
»Was >hm«
»Na ja, Ellie, du wirkst auch nicht immer übermäßig vertrauenerweckend. In letzter Zeit verhältst du dich manchmal ziemlich schräg. Na, eigentlich machst du das schon, seit ich dich kenne.«
»Hast du deshalb den halben Winter über so getan, als befänden wir uns in einer reinen Grußbekanntschaft?«, fragte ich angriffslustig. Ich hatte dieses Thema umschifft, nachdem Tillmann hier aufgetaucht war, doch er sollte ruhig wissen, dass sein Verhalten mich verletzt hatte.
»Ich musste das erst mal mit mir selbst ausmachen, das war alles«, erklärte Tillmann vage. »Ging nicht gegen dich, Ellie.«
»Ich hätte dich gebraucht.« Der Vorwurf in meinen Worten war nicht zu überhören. Tillmann hob erstaunt seine Brauen.
»Warum hast du mir das nicht gesagt? Ihr Mädchen meint immer, wir müssten eure Gedanken lesen können. Echt, Ellie, du bist ganz normal zur Schule gegangen, hast deine Einsen geschrieben, dich mit der dicken Maike und Benni getroffen. Wie bitte hätte ich wissen sollen, dass du mich brauchst?«
»Na, vielleicht hätten es dir deine Tarotkarten verraten«, fauchte ich und musste blinzeln, weil die ersten Sonnenstrahlen durchs Küchenfenster brachen. »Übermorgen fahre ich in die Kunsthalle. Gegen Abend findet ein Führungstermin mit Senioren statt, organisiert von der Hamburger Morgenpost. Mit etwas Glück berichtet die Vespucci darüber. Unwichtige Termine scheinen ja ihre Spezialität zu sein. Und jetzt geh ich schlafen.«
Tillmann folgte mir nicht. Froh darum, allein sein zu können, wickelte ich mich in meine Decke und gab mich dem wohligen Gefühl hin, die Nacht heil überstanden zu haben. Paul atmete. Wir hatten einen Plan. Und ich hatte - wenn auch in einem Zustand haltloser Angst - freiwillig einen Menschen angefasst.
Mehr konnte ich im Moment vom Leben nicht erwarten.
Die gescheiterte Hoffnung
Bevor ich zu dem Termin in der Kunsthalle aufbrach, überprüfte ich das Loch in der Wand und anschließend mein Erscheinungsbild. Mit beidem war ich nicht sonderlich zufrieden. Unsere Lochbohrerei - die Tillmann stets zu Witzen weit unterhalb der Gürtellinie motivierte - ging viel zu langsam vonstatten. Das Problem war, dass wir das Loch von Pauls Zimmer aus bohren mussten, damit das Auge der Kamera sich exakt im Auge der Schlange befand. Paul schlief sehr lange, und wenn er nicht schlief, saß er entweder in Hörweite am Küchentisch oder vor dem Fernseher im Wohnzimmer - oder er war zusammen mit Tillmann unterwegs. Wir arbeiteten wie Häftlinge, die ihr Gitter mit der Feile durchsägten, heimlich und bei jeder passenden Gelegenheit. Derer gab es jedoch nur wenige. Die beste Chance hatten wir, wenn Paul auf dem Klo saß oder sich in der Badewanne aufweichen ließ, und ich hoffte trotz meiner Antipathie für François, dass Paul bald wieder bei ihm übernachtete. Denn wir
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