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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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zu schön, die Lider geschlossen zu halten und vollkommen reglos zu bleiben. Dunkelheit. Willkommene schwarze Dunkelheit, weich und warm.
    »Ellie, du tust mir weh, lass endlich los!«
    Tillmann rammte seinen Ellenbogen in meine Rippen und der Schmerz weckte mich auf. Meine Hand krampfte. Ich wusste, dass meine Nägel sich tief in seine Venen bohrten, doch ich hatte die Regie über meine Finger verloren. Erst als Tillmann mir zum zweiten Mal in die Seite boxte, verebbte der Krampf. Ich ließ los.
    »Entschuldigung«, murmelte ich und massierte meine steifen Fingergelenke. Prickelnd strömte das Blut zurück. Dann fiel mir mit einem Schlag ein, warum wir hier saßen, unter dem Schreibtisch, dicht nebeneinander, unsere Rücken an die Wand gepresst. Noch immer herrschte tiefste Nacht. »Wie lange ... haben wir ...?«
    Tillmann nahm mein linkes Handgelenk und blickte auf meine Uhr.
    »Ach du heilige Scheiße ...«, flüsterte er. »Es ist kurz nach vier. Als ich mir den Joint gedreht hab, war es Viertel nach zwei. Wir haben mindestens anderthalb Stunden gepennt.«
    »Gepennt« war nicht gerade der passende Ausdruck, fand ich. Es war eine Art Besinnungslosigkeit gewesen. Völliger Verlust von Raum und Zeit. Ich lauschte. Bleierne Stille lag über der Speicherstadt, wie vorhin, doch das Wasser gurgelte und plätscherte nicht mehr. Es war zu still... totenstill.
    »Paul!«, keuchte ich erschrocken auf. »Wir müssen nach Paul sehen ...«
    »Ellie, ich bin wirklich nicht feige«, erwiderte Tillmann gedämpft und bedeutete mir, meine Lautstärke zu drosseln. »Aber wenn dieses Ding noch in der Wohnung ist und es uns sieht - hattest du nicht mal gesagt, dass Mahre keinen Wert darauf legen, von den Menschen entdeckt zu werden?«
    Ja, das hatte ich. Trotzdem konnte ich deshalb nicht den Tod meines Bruders in Kauf nehmen. Außerdem war das Grauen von vorhin nicht mehr da - lediglich diese totenähnliche schwarze Ruhe. Alles schlief, nur wir waren wach.
    »Wir müssen nachschauen. Es geht nicht anders«, beharrte ich. Tillmann seufzte leise. Auf allen vieren, fast wie in meinem Traum, bewegte er sich auf die Tür zu. Wieder lauschten wir. Nichts.
    Tillmann richtete sich wie in Zeitlupe auf und drückte die Klinke hinunter. Der Korridor lag leer vor uns. Mit lautlosen Schritten huschten wir zu Pauls Schlafzimmer und öffneten die Tür. Das Fenster war aus den defekten Angeln gekippt, das Bett zerwühlt -aber Paul lag nicht drin. Er war nicht hier. Für einen Augenblick hatte ich Lust, mich auf den Boden zu werfen und meine gesamte Panik und Anspannung herauszuschreien, doch Tillmann war schon wieder in den Flur gestürzt, um weiterzusuchen, und seine Geistesgegenwart holte mich aus meiner entsetzten Trance. Ich rannte zum Fenster und beugte mich vorsichtig über das Sims, um nach unten zu sehen.
    Das Fleet zog träge dahin. Keine Ringe, keine Wellen auf dem Wasser. Wenn der Mahr Paul mitgenommen und hier fallen gelassen hatte, war er sowieso längst ertrunken. Aber wieso sollte er ihn mitnehmen? Oder gar fallen lassen?
    »Ellie!« Ich drehte mich um. Der Ausdruck in Tillmanns Gesicht ließ sämtliches Blut aus meinen Wangen weichen. Ich begann zu zittern. »Komm mit, schnell.«
    Paul hing im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel, den Kopf weit nach hinten überstreckt, den Mund offen. Seine Arme baumelten herab. Auf dem angeschalteten Fernseher rauschte das Störbild. Das Glas Wein neben der halb aufgegessenen Schokolade war umgekippt, auf dem Boden lagen zertretene Salzstangen.
    Aus Pauls Kehle löste sich ein ersticktes Gurgeln. Gott sei Dank, er lebte noch ...
    »Hör dir das an«, sagte Tillmann leise. Wieder holte Paul gurgelnd Luft und ließ sie pfeifend entweichen, dann kehrte Schweigen in seinen Körper ein. Und es blieb viel zu lange. Seine Lippen begannen sich bläulich zu verfärben.
    »Oh Gott...«, wimmerte ich und schlug meine Fäuste auf Pauls Brust, doch im selben Moment drang ein gequältes Krächzen aus seiner Luftröhre und seine Lungen erkämpften sich ihren Sauerstoff zurück.
    Tillmann griff nach Pauls Schultern, um sie zu rütteln.
    »He, Paul, aufwachen ... wach auf!«
    »Paul!«, brüllte ich. »Herrgott, werd endlich wach!«
    Paul öffnete die Augen, deren Weißes rot geädert war. Doch sein Blick blieb hohl. Gespenstisch langsam kippte er vornüber aus dem Sessel. Alle seine Gelenke knackten, als er auf die Knie fiel und mit hängenden Armen verharrte.
    »Das gibt’s nicht«, lallte Paul, ohne uns

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