Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
waren etwas ganz Neues, ebenso die Wintergäste, die Pauschalreisen hierher buchten. Denn wer fuhr schon freiwillig im Winter nach Nordnorwegen?
Irmi hatte es gewagt, sie war an einem windigen Tag Anfang Januar nach Kopenhagen, von da aus nach Oslo und weiter nach Narvik geflogen. Das Weihnachtsfest hatte sie knapp überstanden, aber auch nur, weil Bernhard so gar keine Antennen für seine Schwester hatte oder haben wollte.
Am 6 . Januar hatte sie die Krippe weggepackt, die alte Krippe mit den versehrten Figuren, wie es sie in vielen Familien gab. Den Hirten waren die Arme schon vor vielen Jahren abgebrochen. Der eine von ihnen trug eigentlich ein Holzbündel auf der Schulter, aber ohne Arm ging das schlecht. Irmi hatte ihn immer wieder angeklebt, doch sobald sie das Holzbündel hineingeschoben hatte, löste sich der Arm wieder. Nun hatte der arme armlose Hirte keinen Job mehr. Einer der Heiligen Drei Könige hat sein Bein verloren. Wie wanderte man als Einbeiniger aus dem Morgenland heran? Der Esel war ein Dreibein, und einer der Engel hatte sich seiner Laute entledigt. Da war das Frohlocken auch nicht mehr das, was es mal gewesen war. Versehrt und arbeitslos waren sie, diese Figuren. Die lange Wartezeit im Sommer setzte ihnen zu, denn irgendwann räumte man die Kiste im Speicher eben doch um, stellte eine andere darüber – und schon gab es neue Versehrte.
Als Irmi dieses Jahr ihr Krippenvölkchen wegpackte, begann sie zu weinen, sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Warum war das Leben so ungerecht? Es gab immer neue Verletzungen, es ging mit großen Schritten dem Alter entgegen, das einem die Mutter nahm, den Vater, die Freunde. Es war düster in Irmis Seele.
Zwei Tage lang spürte sie gar nichts, dann regte sich in ihr ein Fluchtreflex. Wieder einmal besuchte sie Adele, berichtete ihr von einer Freundin, die sie besuchen wolle. Ausgerechnet hinter dem Polarkreis. Doch letztlich hatte Adele ihr zugeraten.
Adele war ihre Therapeutin. Niemals hätte Irmi gedacht, dass sie mal zu so einer Seelenklempnerin gehen würde. Sie musste lächeln, während sie da im Sortland Hotell saß und an Adele dachte. Das Klempnerhandwerk passte so gar nicht zu Adele Renner mit ihrer leicht entrückten Weltfremdheit. Dafür war sie mit ihrer sanften und liebevollen Art gar nicht handfest genug. Als Irmi sich irgendwann eingestanden hatte, dass ihre Schlafstörungen, ihre für sie selbst unfassbare Bedrücktheit mitten an bunten Sonnentagen das Maß des Erträglichen überstiegen hatten, war es fast schon zu spät gewesen. Sie hatte ihr sprachloses Entsetzen selber nicht verstanden, sie hatte die Bilder gesehen, die immer wieder in ihrem Inneren auftauchten, aber sie hatte mit niemandem darüber reden können. Ein gemeinsames Wochenende mit Jens, bei dem sie ihn nur noch angepflaumt und jeden seiner Blicke und Gesten falsch gedeutet hatte, war die Initialzündung gewesen. Sie konnte sich selbst zerstören, aber doch nicht die Menschen, die sie liebten. Man durfte den Besten nicht immer die schlechtesten Seiten zumuten. Aber genau das hatte sie getan.
Und so war sie an die zierliche und alterslose Adele gelangt. Weit weg von Garmisch, im Allgäu draußen, weil man sie dort nicht kannte. Adele hatte sie nicht belabert, hatte keine Gemeinplätze von sich gegeben, keine Plattitüden, aber auch nicht die ganze Zeit geschwiegen. Stattdessen hatte Adele ihr eine EMDR -Therapie angeboten, das sogenannte Eye Movement Desensitization and Reprocessing, zu Deutsch »Augenbewegungsdesensibilisierung und Wiederaufarbeitung«. So lautete die etwas sperrige Bezeichnung für eine Methode, bei der eine traumatisierte Person eine besonders belastende Phase ihres traumatischen Erlebnisses gedanklich einfrieren soll, während der Therapeut den Klienten mit langsamen Fingerbewegungen zu rhythmischen Augenbewegungen anhält. Irmi kam das alles zwar etwas merkwürdig vor, aber sie akzeptierte zum ersten Mal, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Sie begriff, dass das Eingesperrtsein mit einem Rentierschädel in einem dunklen Bunker, dass diese Todesangst, die sie dort empfunden hatte, eben doch tiefe Schäden in ihr hinterlassen hatte. Und weil die Methode des EMDR nach dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 bei den Überlebenden so gut funktioniert hatte, vertraute Irmi dieser kleinen Frau. Vielleicht auch, weil diese selbst so unperfekt wirkte.
Adele hatte sich Irmis Reisepläne angehört und sie letztlich gutgeheißen,
Weitere Kostenlose Bücher