Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
trotz des merkwürdigen Ziels. Kathi hingegen hatte Irmi angesehen, als sei sie geistesgestört, als sie ihr erzählte, dass sie mitten im Winter nach Nordnorwegen fahren wollte. »Was willst du denn auf einer windgepeitschten Insel am verschissensten Arsch der Welt? Da wird ja selbst ein Bauerntrampel wie du depressiv«, hatte sie gesagt. Von Irmis Therapie wusste sie ja nichts. Irmi hatte nur gutmütig gelacht. Eigentlich sollte die Reise ihre Schwermut ja eher vertreiben. Kathi hatte ihr zu Ayurveda in Sri Lanka oder zumindest zu »so einem Wellness-Chichi auf Malle« geraten.
Doch Irmi war nordwärts geflogen.
Wieder trank sie einen Schluck von ihrem Kaffee und winkte einem Mann auf dem Schiff zu. Sie selbst hatte kürzlich auch so eine winterliche Whale Watching Tour mitgemacht, mit Ssemjon, der seinen Namen den Eltern zu verdanken hatte, die glühende Tolstoi-Anhänger waren. Ssemjon war Deutscher und hatte ein Guesthouse an einer windigen Inselspitze. Er war extrem wetterfest und voller Euphorie. Auch Irmi hatte sich nach einiger Zeit den Norwegern angepasst und trug nun über ihren ohnehin schon warmen Klamotten einen dieser typischen Overalls. Schmeichelhaft für die Figur waren sie nicht gerade, denn sie machten einen zum Michelinmännchen oder Öltank. Aber nicht umsonst hatte das halbe Land sie – sie waren wattiert, wasserfest, winddicht.
Mit dem Schiff waren sie bis in den engen Trollfjord eingefahren, dessen Ende zugefroren war. Irmi war es fast unglaublich erschienen, dass die Schiffe der Hurtigruten hier wenden konnten. Seeadler hatten über dem Boot gekreist, das Licht hatte Feuersbrunst am Himmel gespielt. Sortland war Anlegestation, und immer wenn eines der stolzen weißen Schiffe der Hurtigruten kam, blieben Autos auf der Brücke stehen, und es wurde fotografiert. »Man hat schon ein Halteverbot auf der Brücke diskutiert«, hatte Ssemjon erklärt. »Doch der Antrag wurde abgeschmettert: Die Hurtigruten ist ein Teil der nationalen Identität, so viel Zeit muss eben sein!«
Und Zeit hatte Irmi genug in dieser anderen Welt, die sich aus Eis und Wind, aus Licht und so viel Dunkelheit jeden Tag neu erschuf. Ihre Finger waren bei der Whale Watching Tour an Deck des Schiffes zusehends zu Eiskrallen geworden, aber sie hatte den Auslöser der Kamera, die Kathi ihr mitgegeben hatte, nicht loslassen können. Ein Lob auf die Michelinmännchenbekleidung. Nur Ssemjon hatte ohne Mütze im Wind gestanden und gelächelt, weil er fand, dass seine Wahlheimat der schönste Platz der Welt war, gerade jetzt, wo die Fjordberge immer schwärzer wurden. Und es schon um drei Uhr nachmittags Nacht wurde. Irmi verstand ihn gut. Erst nach einiger Zeit hatte sie den Rhythmus hier begriffen, die Welt war langsamer geworden, nichts zählte mehr, nur das Licht, das zauberhafte, betörende Licht.
Nachdem Irmi ihre Einkäufe erledigt hatte, fuhr sie zurück nach Bø, an jenem Berg vorbei, der wie ein Spaten aussah. Es war stockdunkel, als sie nach gut einer Stunde Fahrt über kurvige Sträßchen im Guesthouse in Ringstad ankam, ihrem Zuhause auf Zeit. Vom offenen Meer blies ein scharfer Wind in den Vesterålsfjord herein, und es riss ihr fast die Tür aus der Hand, als sie die Tüten ins Haus schleppte. Kaum hatte sie alles eingeräumt, da klingelte das Schnurlostelefon, das auf der Theke lag. Sie hob ab und verstand erst gar nichts.
Es war Kathi. Wie war sie an ihre Telefonnummer gekommen? Es rauschte, fast wie der Wind draußen. Immer wieder brach Kathis Stimme ab. Nur eines war ganz klar zu verstehen: »Du musst zurückkommen.« Irmi begab sich mit dem Mobilteil näher zur Ladestation, und das Rauschen wurde zu einem Rascheln.
»Erzähl das bitte noch mal. Ich kann dich nur ganz schlecht verstehen«, sagte Irmi und starrte auf ein grandioses Foto an der Wand, das ihr Domizil am Wasser zeigte. Darüber war das Nordlicht zu sehen, Aurora borealis genannt – ein Spektakel, das süchtig machte. Das Foto war nur eines von vielen, die Ian aus seiner schwarzen Kamera zaubern konnte. Seine Bilder konnten einen zu Tränen rühren, so schön waren sie.
Irmi hatte Carina und Ian vor einigen Jahren in Garmisch kennengelernt, wo sie Urlaub gemacht hatten – voller Sehnsucht nach unberührter Natur, von der sie im Ruhrgebiet, wo sie damals wohnten, nicht genug finden konnten. Inzwischen hatten die beiden eine alte Handelsstation in der Inselwelt der Vesterålen gepachtet, in der sie Zimmer vermieteten, und sie hatten Irmi per
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