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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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landete im Winter in den Lagerfeuern auf dem zugefrorenen Fluss, der Rest aber blieb einfach liegen und bildete eine Brandgefahr. In seinen ersten Jahren im Arbeitslager hatte Lew noch das eine oder andere Beispiel von Schönheit in seiner Umgebung zur Kenntnis genommen, doch dies war 1952 nicht mehr der Fall. »Objektivgesehen«, schrieb er, »ist in unserer Gegend wenig Schönheit übrig geblieben – man hat alles zugebaut, durch Abfallhaufen verunstaltet und abgehackt. Im Sommer gibt es keine Blumen und Beeren mehr wie vor drei Jahren, und nicht einmal das Gras ist zu sehen. Nur noch der Himmel ist geblieben.«
    Seit seiner Ankunft in Petschora hatte Lew zum Himmel aufgeblickt. Dies war seine einzige Fluchtmöglichkeit aus dem Lager. Er war überwältigt von der Schönheit der Nordlichter und der schieren Weite des Sternenmeers. »Die Natur hat dieses karge Komi-Land mit einem wunderbaren, nicht nur farbenprächtigen, sondern atemberaubenden Himmel gesegnet!«, schrieb er Sweta am 12. August.
     
Anhaltende Sonnenuntergänge, die sich zu einem noch längeren Zwielicht mit so magischen Farben und Effekten ausdehnen, dass es unmöglich ist, sich von ihnen loszureißen – du stehst mit zurückgeworfenem Kopf da, bis dir die Zähne in der Kälte klappern (der Herbst ist schon zu spüren). Heute hatten wir einen bewölkten und elend grauen Tag. Aber am Abend wandelten sich die trüben östlichen Wolken plötzlich zu einem so starken, undurchsichtigen Blau, dass wahrscheinlich sogar das ruhige Blau der kaukasischen Berge neidisch geworden wäre. Dann, nach einer halben Stunde, fand die Sonne, die bereits am Horizont zurückwich, urplötzlich einen schmalen Spalt in der Mitte der Sturmwolken und drängte sich mit einem derart lebhaften orangefarbenen Lodern hindurch, dass alle Kiefern auf ihrem Weg plötzlich zu glühen begannen – nicht mit einer roten, sondern einer bleichen, gelbgrünen Wärme. So etwas habe ich noch nie gesehen – es waren keine Bäume mehr, sondern strahlende Silhouetten vor einer leuchtenden Flamme. Und der Rauch des Schornsteins, der zwischen ihnen umherwirbelte, erfüllt von den zartesten Tönen und den farblosen, gläsernen Wellen der Luft, schien sie zum Leben zu erwecken. Die Sterne sind aus ihrem Sommerschlaf aufgetaucht, 48 und auch dafür bin ich dankbar.
     
    Der Himmel war das Einzige auf der Welt, bei dessen Anblick er sich vorstellen konnte, dass auch Sweta es betrachtete. Er blickte zu ihm hoch, wenn er sich nach ihr sehnte.
    1952 wurde im Kraftwerk ein neuer Ziegelschornstein gebaut. Nach der Fertigstellung fiel den Lagerchefs auf, dass sie vergessen hatten, seine Höhe zu verzeichnen, und so forderten sie Freiwillige auf, mit einem Messseil an die Spitze zu klettern. Lew und Sergej Skatow, einer der Heizer des Kraftwerks, stiegen an den kleinen, in die Ziegel eingelassenen Eisengriffen hinauf und setzten sich auf den schmalen Schornsteinrand. Sie waren fast 40 Meter vom Boden entfernt und schauten nach Süden über den Fluss und die Kiefernwälder hinweg, die sich in Richtung Moskau erstreckten, so weit das Auge reichte. Zum ersten Mal seit nahezu sieben Jahren erhaschte Lew einen Blick auf die Welt jenseits des Arbeitslagers. Er schilderte die Episode:
     
Ich wollte herausfinden, was draußen war, um das Lager herum, wie und wohin der Strom floss und was jenseits von ihm lag. Wir blieben eine Zeitlang sitzen und kletterten dann hinunter. Kaum hatte ich die Füße wieder auf die Erde gesetzt, verspürte ich einen stechenden Schmerz im Rücken. Es war ein Hexenschuss, und ich brach zusammen. Wäre das ein paar Momente früher passiert, wäre es aus mit mir gewesen.
     
    Bei allem gegenseitigen Vertrauen und Bemühen war Lews und Swetas Beziehung doch bei jeder Störung der Routine oder der Kommunikation enormen Belastungen ausgesetzt. 1952 war das erste Jahr seit1947 , in dem Sweta Lew nicht in Petschora besuchen konnte. Sie hatte geplant, im Juni am Ende einer Dienstreise nach Omsk und Kirow zu ihm zu fahren, war jedoch nach Moskau zurückgekehrt, weil ihr Nesselausschlag behandelt werden musste. Sie verlegte die Reise auf den September, doch ihre Mutter Anastasia erkrankte, und Sweta musste sich um sie kümmern. »Mama geht es noch nicht besser«, schrieb sie Lew am 19. Juli. »Wenn niemand auf sie aufpasst und sie zum Essen nötigt, wird sie nichts zu sichnehmen und schwächer werden. Vorerst wird es schwierig für mich werden, wegzufahren, und später sollte jemand mit Mama

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