Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Allgemeinen. Es ist wirklich schwer, dieses Gefühl in Worte zu fassen, wenn einem die Begabung fehlt, denn das Ergebnis klingt zwangsläufig nach leerer Rhetorik, aber ich möchte trotzdem einen Versuch machen, sogar nach Nekrassow. 47 Denn in meinem Leben, von meiner frühesten Kindheit an, sind die guten Menschen, denen ich so viel verdanke, Frauen gewesen. Ich werde immer noch von der Gewissheit geplagt, dass ich nie in der Lage sein werde, meine Schuld nicht nur bei denen zu begleichen, die sich meiner – wie meine Großmutter – ohne Rücksicht auf sich selbst annahmen, sondern auch bei denen, die mir als Vorbilder an Menschlichkeit dienten, indem sie in allen Prüfungen des Lebens Güte mit Stärke, in ihrer Wahrnehmung der Realität stille Weisheit mit lebhaftem Humor und Unermüdlichkeit bei der Arbeit mit ständiger Warmherzigkeit verbanden.
In meinem Leben hat es so viele Frauen gegeben, deren Qualitäten ich bewundere, dass kein negatives Beispiel, ob ich es selbst beobachtete oder nur von ihm hörte, meine Auffassung ändern könnte. Es stimmt, dass es für jeden guten Menschen auf der Welt mehrere schlechte gibt, doch dieser eine Mensch hat so viel Großartiges an sich, dass es all das Schlechte in den anderen wettmacht. Ich kann an jene Frauen – meine Großmutter Lidia Konstantinowna, ihre Schwester, Tante Lisa, Jelis[aweta] Al[exandrowna] [Onkel Nikitas Frau], Tante Lelja und viele andere – nicht ohne die tiefste Verehrung denken. Wie viel Kummer Lidia Konstantinowna ertrug, wie viele Missgeschicke, die sie hätten erdrücken und ihre seelische Kraft hätten zerstören können. Wie viel innere Stärke muss sie aufgebracht haben, um nicht der Verzweiflung zu erliegen, um großzügig und mit sich im Reinen zu bleiben, wobei sie einen klaren Kopf bewahrte und jene weiterhin unterstützte, denen die Kraft fehlte, solchen Schwierigkeiten ohne Hilfe standzuhalten. Wie viele solche Frauen es gibt!
Frauen wie meine Großmutter. Und wie viel Finsternis gäbe es auf der Welt, wenn sie nicht existierten! Sweta, muss ich Dir wirklich sagen, dass ich in Dir all die Vorzüge der besten Frauen erkenne, denen ich je begegnet bin?
Mein Liebling, meine teure Sweta.
Vom Frühjahr 1952 an ging die Bevölkerung des Holzkombinats zurück. Gefangene, deren Haftzeit ablief, wurden in beträchtlicher Zahl entlassen, und es kam nicht mehr zu Massenverhaftungen, durch die sie ersetzt wurden. Dabei handelte es sich um ein landesweites Phänomen: Der Gulag wurde nach und nach geschlossen. Eine Folge dieser Entlassungen war es, dass sich das Netz von Freunden und Verwandten, das die verbleibenden Häftlinge mit Helfern in der Außenwelt verband, größer und wichtiger wurde. Nachdem sie sich wieder in die Gesellschaft eingegliedert hatten, konnten ehemalige Gefangene den Lagerinsassen zur Seite stehen. Diese inoffiziellen Netzwerke waren insbesondere für die vielen Häftlinge bedeutsam, die keine Angehörigen, kein Zuhause und keinenArbeitsplatz hatten, zu denen sie nach ihrer Freilassung zurückkehren konnten. Ehemalige Häftlinge durften gewöhnlich nicht in den größeren Städten wohnen, weil man fürchtete, sie könnten die Bevölkerung durch ihre Unzufriedenheit demoralisieren. Entsprechend waren sie auf Verwandte und Freunde angewiesen, die einen Wohnort für sie finden und sie während der Arbeitssuche finanziell unterstützen mussten.
Im März 1952 hatte Rykalow seine achtjährige Haftstrafe abgesessen und fuhr nach Moskau. Dort hielt seine Schwester einen »Familienrat« ab, um zu entscheiden, wo er wohnen und wie er leben sollte. Seine Gesundheit war angegriffen, denn er hatte sich nicht völlig von der Tuberkulose erholt. Lew bat Sweta, ihm zu helfen:
Er hat nur eine Lunge, und auch die ist nicht vollständig. Er bewegt sich mühsam, gerät rasch außer Atem und fühlt sich sehr schwach. Er überlegt, nach Kirgistan zu ziehen (obwohl er seine Zweifel wegen des dortigen Klimas hat) oder vielleicht nach Nordkasachstan. Seine persönlichen Angelegenheiten, abgesehen von der Beziehung zu seiner Mutter und seinen Schwestern, machen ihn nicht sehr glücklich. Er hat mir die Einzelheiten nicht erklärt – die Zeit war knapp, und ein Telefonat begünstigt nicht unbedingt Offenheit –, aber er hat versprochen zu schreiben. Wenn er Zeit hat, möchte er bei Dir vorbeischauen. Ich habe ihm gesagt, er solle sich nicht extra anstrengen, denn jeder Kilometer kommt ihn teuer zu stehen. Aber ich habe ihm
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