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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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in Deinem Namen versprochen, dass Du ihn, wenn Du Dich gut genug fühlst, Deinerseits besuchen wirst.
     
    Zehn Tage später hatte Sweta noch nichts von Rykalow gehört. Er war verschwunden. »Vielleicht ist es zu früh«, schrieb sie Lew am 26. März. »Morgen oder übermorgen werde ich versuchen, ihn zu finden … Ich glaube, seine Schwester heißt Marusja. Die Wohnungsnummer werde ich erraten müssen, aber auf jeden Fall erinnere ich mich an das Gebäude und das Treppenhaus.«
    Anissimow wurde als Nächster entlassen. »Ljoschka hat seineEntlassungspapiere erhalten«, schrieb Lew am 5. März. »Ohne ihn wird es langweilig sein. Von all unseren Zeitgenossen hier ist er der Einzige – nach Ljubka [Terlezki] –, mit dem ich wirklich interessante Gespräche führen kann.« Anissimow stammte ebenfalls aus Moskau.
     
Wenn es ihm gelingt, seine Schüchternheit zu überwinden, wird er Dich auf der Durchreise [zu seinem Ansiedlungsort jenseits von Moskau] zum Tee besuchen. Er ist ein feiner Kerl, wie ich Dir schon oft geschrieben habe, offen und vernünftig, doch gegenüber Menschen, die er nicht kennt, wird er sehr scheu und zurückhaltend. Er trinkt gern Tee mit Himbeermarmelade (das sage ich Dir im Vertrauen).
     
    Anissimow reiste am 12. März ab. Lew befürchtete, dass es ihm zu unangenehm sein könnte, Sweta in der schäbigen Kleidung eines gerade entlassenen Häftlings zu besuchen. Anissimow traf am 16. März in Moskau ein und schrieb Sweta vom Jaroslawler Bahnhof, dass er nicht zu ihr fahren könne, da er Grippe und Magenschmerzen habe. Sweta hatte Marmelade für ihn hergestellt. »Wäre mir klar gewesen, dass er am Bahnhof saß, hätte ich mich selbst zu ihm aufgemacht«, kommentierte sie. »Vielleicht schafft er es, vorbeizukommen, wenn es ein bisschen wärmer ist.« Die Marmelade blieb auf der Anrichte stehen, doch Anissimow ließ sich nicht blicken. Fünf Monate später gab er Lew eine Erklärung: »Ich erreichte den Bahnhof, setzte mich anderthalb Stunden lang auf eine Bank, nahm Abschied [von Moskau] und fuhr weiter.« Anissimow war als Ingenieur ausgebildet worden, doch als ehemaliger Häftling konnte er in einer Fabrik bestenfalls einen ständigen Arbeitsplatz als Monteur finden. Stattdessen suchte er nach Gelegenheitsarbeit als Mechaniker.
    Während sich der Häftlingsexodus verstärkte, zeigte das Arbeitslager allmählich Auflösungserscheinungen. »Mehr und mehr Leute verlassen uns«, schrieb Lew an Sweta. »Wegen des Rohstoffmangels ist die Rentabilität des Holzkombinats gesunken, unddas Personal muss reduziert werden. Leider sind es die schlechten Arbeiter, die noch hier sind.« Überall war es das Gleiche: fehlende Arbeitskräfte, Ineffizienz, sinkende Produktivität und steigende Ausgaben, hauptsächlich für die Bewachung der Häftlinge, die umso aufsässiger wurden, je mehr sie schuften mussten. Die Wirtschaftlichkeit des Gulagsystems war nicht mehr plausibel. 1953 gab das MWD schließlich zweimal so viel für den Unterhalt des Gulag aus, wie es an Einnahmen durch dessen Produktion bezog. Mehrere hohe MWD-Funktionäre stellten die Effektivität von Zwangsarbeit ernsthaft in Frage. Man redete sogar davon, Bereiche des Gulag abzubauen und den Häftlingen einen ähnlichen Status wie den Zivilarbeitern zu geben. Da aber Stalin fest hinter dem Gulagsystem stand, wurde keiner dieser Gedanken ernsthaft zur Diskussion gestellt.
    Der Verfall des Gulagsystems war im Holzkombinat deutlich sichtbar. Das Parteiarchiv von 1952 wird beherrscht von Diskussionen über Verschwendung und Ineffizienz, Diebstähle, Aufstände und Arbeitsverweigerung von Häftlingen, die keinen Lohn erhalten hatten. In der ersten Hälfte des Jahres 1952 waren über 5000 Arbeitstage verlorengegangen und nur 60 Prozent des Plans erfüllt worden. Die Verwaltung reagierte damit, dass sie die Gefangenen zu noch schwererer Arbeit nötigte, ihre Schichten auf 14 Stunden verlängerte und sie auch bei Krankheit einsetzte. Die Folge waren lediglich noch mehr Unruhen, Streiks und Bummelstreiks sowie weitere Verluste von leistungsfähigen Männern. Dreimal in den ersten sechs Monaten des Jahres 1952 gab es Versuche zu einer Gruppenflucht aus dem Holzkombinat (zwei davon erfolgreich).
    Auch äußere Anzeichen des Verfalls waren unverkennbar. Seit Jahren hatte man wenig unternommen, um das Arbeitslager von Holzresten, Borke, Sägemehl, Ziegeln und Tauwerk zu säubern, die sich um die Sägemühle und die Werkstätten aufhäuften. Manches davon

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