Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
mich, es zu schreiben, Sweta, aber ich dachte – vergib mir, meine liebe Swet –, dass es möglicherweise nicht der Zeitmangel war, der Dich daran hinderte, zur Feder zu greifen. Aber Swetka, Swetinka, ich wusste überhaupt nichts: Ich wusste nicht, wie lange Du plantest, fort zu sein. Wahrscheinlich vergaßt Du, Deine Daten zu erwähnen, und ich konnte nur schlussfolgern, dass die Reise im Dezember enden sollte, denn das war damals – 1952 – vorgesehen gewesen. Und ich wusste nichts von den Problemen in Swerdlowsk noch von der Situation in O[msk]. Im Prinzip hätte ich all das selbstverständlich erahnen können, und es gelang mir auch in meinen vernünftigeren Momenten, aber was kann ich tun, wenn es so wenige von ihnen gibt?
Sweta, mein Liebling, es schmerzt mich, dass ich Dich beinahe zu Tränen getrieben habe, doch das lässt sich jetzt nicht mehr ändern, sosehr ich mir auch wünschte, dass ich mich besser benommen hätte.
Ich erhielt Deinen Brief (datiert auf den 18.) vor einer Stunde, gerade als ich zur Arbeit aufbrach. Sweta, ich werde Dir später über alles andere schreiben, obwohl es zurzeit nicht viel Neues gibt. Mein Liebling Sweta. Wir werden versuchen, alles zwischen uns in Ordnung zu bringen, nicht wahr?
43 Ein Teil der Beschlagnahme von Industriegütern durch die sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland. Dies war von den Alliierten auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 abgesprochen worden und diente als Reparation für den Schaden, den der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion angerichtet hatte.
44 Beide Zeilen stammen aus Liedern populärer Sowjetfilme der 1940er Jahre.
45 Konon Sidorowitsch Tkatschenko, einer von Lews Mithäftlingen, ein Ingenieur und Strelkows Laborassistent, der dafür verantwortlich war, die korrekte chemische Zusammensetzung des Wassers im Boilersystem des E-Werks aufrechtzuerhalten.
46 Grünkohl galt als Heilmittel für Leberleiden, Hepatitis und Magengeschwüre.
47 Gemeint ist der russische Dichter Nikolai Nekrassow (1821–1878). Lew bezieht sich auf dessen Poem »Russische Frauen«, in dem zwei Fürstinnen, Maria Wolkonskaja und Jekaterina Trubezkaja, gepriesen werden. Sie waren ihren Männern in die Verbannung nach Sibirien gefolgt, wohin man diese wegen ihrer Teilnahme am Dekabristenaufstand von 1825 geschickt hatte. Lew stellt eine Parallele zwischen Sweta und den beiden berühmteren Heldinnen her.
48 Die Weißen Nächte des Nordens ließen die Sterne unsichtbar werden.
11
Stalin starb am 5. März 1953. Er hatte einen Schlaganfall erlitten und vor seinem Tod fünf Tage lang bewusstlos im Bett gelegen. Seine Krankheit wurde von der Sowjetpresse erst am 4. März gemeldet. »Wie unerwartet die Nachricht war«, schrieb Lew Sweta zwei Tage später. »Bei solchen Gelegenheiten wird die Ohnmacht der modernen Medizin mit tragischer Gewissheit deutlich. Erst wenn bedeutende Personen betroffen sind, wird die Illusion, dass es möglich sei, die menschliche Gesundheit ein wenig länger zu erhalten, als von der Natur vorgesehen, ganz und gar entlarvt.«
Stalins Tod wurde der Öffentlichkeit am 6. März bekannt gegeben. Bis zum Begräbnis, drei Tage später, war der Leichnam in der Säulenhalle des Gewerkschaftshauses nicht weit vom Roten Platz aufgebahrt. Riesige Menschenmengen kamen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Im Zentrum der Hauptstadt wimmelte es von tränenüberströmten Trauernden, die aus allen Landesteilen nach Moskau gereist waren. Hunderte wurden im Gedränge erdrückt. Stalins Tod war ein emotionaler Schock für das Land, denn seit fast dreißig Jahren – den traumatischsten der russischen Geschichte – hatte das Sowjetvolk in seinem Schatten gelebt. Stalin war der moralische Bezugspunkt der Menschen: ihr Lehrer, väterlicher Beschützer, ihr nationaler Führer und Erlöser vor dem Feind, ihr Garant von Recht und Ordnung (»Immerhin gibt es ja Stalin«, pflegte Lews Tante Olga zu sagen, wenn sich irgendeine Ungerechtigkeit ereignet hatte). Der Kummer der Bürger war eine natürliche Reaktion auf die Desorientierung, die sie bei seinem Tod empfinden mussten, fast ungeachtet ihrer eigenen Erfahrung unter seiner Herrschaft. Sogar nicht wenige von Stalins Opfern waren betrübt über seinen Tod.
Wie alle anderen erfuhren Lew und Sweta die Nachricht am 6. März aus dem Radio. Keiner von beiden konnte seinen wahren Gefühlen Ausdruck verleihen, befanden sie sich doch in einem Zustanddes ängstlichen
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