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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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verwendet wird. »Es scheint zu wirken«, teilte sie Lew mit. »Jeder im Institut kennt mich, aber jeden Herbst habe ich Mühe, mir die Namen der neuen Mädchen zu merken … und dauernd beschimpfe ich andere.« Auch Lew konnte Swetas Zorn nicht immer entgehen. Am 19. März hatte er einen Brief von Onkel Nikita erwähnt, der ihm schrieb, dass der Gedanke an Lew und dessen Tugenden sein einziger Trost sei und dass er sich nichts anderes wünsche, als mit Lew zusammen zu sein. »Ich weiß nicht, wie ich antworten soll, ohne den Eindruck falscher Bescheidenheit zu vermitteln«, hatte Lew behauptet. Sweta erwiderte am 26. März:
     
Ich wünschte, jemand würde Dir eine ordentliche Tracht Prügel verpassen, Lew! Meiner Ansicht nach wäre es besser, N. K. gegenüber nicht auf das Thema einzugehen. Erstens würde er Deinen Worten keinen Glauben schenken, und zweitens, selbst wenn er es täte – warum hältst Du es für notwendig? Damit keine Lügen im Raum stehen? Es ist durchaus nicht erwiesen, dass die Wahrheit immer die beste Lösung ist. Um Deiner eigenen Eitelkeit willen (»Oh, sieh mal, wie ehrlich ich bin«) würdest Du jemanden zwingen, sein Ideal aufzugeben, das heißt, Du würdest einem anderen Kummer bereiten. Jetzt enttäuscht zu sein, damit man später nicht enttäuscht ist – eine wunderbare Logik! Erst recht, da Du gar nicht weißt, ob es später tatsächlich schlimmer sein wird. Manchmal verspüre auch ich den Drang, die Illusionen anderer zunichtezumachen. Aber das ist nur der Fall, wenn ich schlechter Laune bin; sonst halte ich es für besser, den Kindern ihren Spaß zu lassen. Wirklich, Ljowa, ich meine es ernst … Außerdem werden Deine Schwächen nicht einfachdadurch weniger, dass Du sie zählst. Ich spreche nicht von Dir, Ljowa, sondern ganz allgemein und wahrscheinlich eher für mich selbst … Du bist ein guter Mensch, Lew. Was mich anbelangt, könnte ich ausführlich darüber schreiben, dass ich kein guter Mensch bin (aber dann denke ich mir, dass dies aus vielen meiner Briefe hervorgeht und dass es sich nicht lohnt, einen eigenen Brief auf das Thema zu verschwenden).
     
    Unterdessen hatte Lew Mühe, seinen sechsten Winter in Petschora zu überleben. Wieder einmal war man im Arbeitslager nicht auf die eisigen Temperaturen vorbereitet. Es kam zu Stromausfällen, und viele Baracken in Lews Kolonie mussten dringend repariert werden. Häftlinge siechten nach einer Grippe- und Skorbutepidemie, für die es keine Medikamente oder notwendige Vitamine gab, in der Krankenstation dahin. Die Ärzte waren der Situation nicht gewachsen. Zwischen 120 und 130 Häftlinge (ungefähr 10 Prozent aller Insassen des Holzkombinats) meldeten sich täglich im Januar 1952 krank. Lew besuchte eine Reihe seiner Bettnachbarn aus der Baracke in der Klinik. »Wir haben nicht genug Nahrungsmittel und Ascorbinsäure«, berichtete er Sweta. »Deshalb sind die Leute sehr geschwächt.« Auch Hepatitis war weit verbreitet. Konon Tkatschenko erkrankte an einer bösartigen Variante und verbrachte acht Monate in der Klinik. »Er ist kaum noch zu erkennen – nur gelbe Haut und Knochen«, schrieb Lew an Sweta, die Tkatschenko die Kondensmilch besorgt hatte. »Er kann sich kaum bewegen oder sprechen.« Auch Strelkow wurde von Hepatitis ereilt – eine zusätzliche Komplikation zu den Gallensteinen und der Leberkrankheit, die ihn in den vergangenen Jahren so mitgenommen hatten –, doch er erholte sich allmählich, indem er das auf der »Kolchose« angebaute Gemüse verzehrte. 1952 lebte Strelkow von einer Kost aus Grünkohl 46 und Pflanzenöl.
    Jedes Jahr am 8. März beglückwünschte Lew Sweta zum Internationalen Tag der Frau. 1952 sandte er seine Grüße erst am12. März, aber sein Brief war dafür von ganz besonderer Art. Alle wichtigen Personen in seinem Leben waren Frauen gewesen: seine Großmutter, seine Tanten und Sweta, an die er sich nun voller Ehrerbietung und Dankbarkeit wandte:
     
Swetlaja, mein Liebling, ich habe Dir meine Glückwünsche zum 8. März noch nicht geschickt, obwohl niemand die Ehre mehr verdient als Du. Wahrscheinlich hindert Dich Deine Bescheidenheit daran, einzugestehen, dass zu diesem Anlass überhaupt eine besondere Ehrbezeugung angebracht ist. Ich dagegen bin in dieser Hinsicht völlig unbefangen und kann ohne Furcht vor Widerspruch bekennen, wie froh ich bin, dass das weibliche Geschlecht auf dieser Erde existiert. Ich habe die höchste Achtung vor Euch allen, eine höhere als vor den Menschen im

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