Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
gnadenlos gewesen, von minus 42 bis runter auf minus 47 Grad, und die Werkstätten sind nicht in Betrieb. Es ist unmöglich, sich ohne Handschuhe draußen länger als eine oder zwei Minuten aufzuhalten. Die Spatzen drohen zu erfrieren. Einer wärmt sich in unserer Baracke auf und ist nun seit zwei Tagen hier. Er ist ein munterer kleiner Bursche. Wir feierten das neue Jahr mit G. J. [Strelkow], nur zu dritt, denn Tall N. [Litwinenko] ist noch in der Krankenstation und K. [Tkatschenko] hatte Angst vor der Kälte und kam nicht. Walja schickte G. J. eine schöne Pfeife, Tabak und eine Mütze. Ich freute mich genauso sehr für ihn wie er für sich selbst. Es hat ihn wirklich aufgeheitert.
Lew hatte seit drei Wochen keinen Brief von Sweta erhalten, und seine Träume wurden noch sehnsüchtiger. »Swetloje, es ist so trostlos ohne Deine Briefe«, schrieb er am 6. Januar.
Drei Nächte hintereinander habe ich Dich im Traum gesehen. Ich träumte, dass wir irgendwelche Geräte in Deinem Institut ablieferten und dass Du kamst, um sie entgegenzunehmen. Aber ich war einfach nicht fähig, etwas zu Dir zu sagen, und dann konnte ich Dich nicht finden, weil Du anscheinend schon fortgegangen warst. Nur Deine Unterschrift blieb auf dem Lieferschein zurück. Und dann stellte sich heraus, dass es nicht einmal Deine Unterschrift war.
Eine weitere Woche verging ohne einen Brief von Sweta. Am 10. Januar fragte Lew:
Swetka, warum schreibst Du mir nicht? Es gibt so viele Dinge, die ich mir einbilde, wenn Deine Briefe nicht mehr kommen – oh, so viele –, und die rationalste Logik, zu der ich in seltenen Momenten noch fähig zu sein scheine, kann die unlogischsten Vermutungen nicht widerlegen, zumal nicht alles im Leben logisch ist. Nicht viel ist nötig – nur zwei Zeilen …
Und drei Tage später:
Die Post trifft morgen ein. Nun warte ich auf diese Tage mit einem gewissen Maß an Verzweiflung, während ich früher nach einem von ihnen immer dachte: Schön, das ist in Ordnung, der heutige Tag geht zu Ende, aber vielleicht kommt morgen ein Brief.
Lews schlimmste Befürchtung war, dass Sweta ihn im Stich gelassen hatte. In Wirklichkeit war sie auf einer Dienstreise nach Swerdlowsk und Omsk gewesen, die infolge von Problemen in den Reifenfabriken länger gedauert hatte als erwartet. Sweta war von der Arbeit so sehr in Anspruch genommen worden, dass sie nicht einmal Zeit gefunden hatte, Lew eine kurze Notiz zu schicken. Schließlich meldete sie sich nach ihrer Rückkehr am 18. Januar:
Ich weiß nicht, warum, aber es fällt mir überhaupt nicht leicht, 2 Zeilen zu schreiben. Im Gegenteil, es ist weniger mühsam, einen ausführlichen Brief zu verfassen, obwohl ich länger dazu brauche. Meine Dienstreise sollte insgesamt 7 Tage dauern (5 davon allein für die Fahrt), aber das habe ich Dir wahrscheinlich schon mitgeteilt. Und obwohl ich dachte, dass wir uns wegen einer Woche keine Sorgen zu machen brauchten, nahm ich trotzdem Umschläge und Papier mit, um Dir schreiben zu können, doch aus irgendeinem Grund bot sich keine Gelegenheitdazu … Wie so oft beschließt man, etwas am folgenden Tag zu tun, aber wenn »morgen« beginnt, hat man auf einmal sogar noch mehr zu tun und sagt sich dann, dass man es in 3 oder 4 Tagen erledigen wird … Das Einzige, was mich tröstete, war der Gedanke, dass Du nicht böse auf mich sein würdest, solange Du mich liebst. Das ist einer der Vorzüge der Liebe: Man darf dumme Dinge tun. Trotzdem tut es mir leid. Ich habe mir so viel Mühe gegeben, nichts verkehrt zu machen … Als ich nach Hause kam und Deine Briefe las, wollte ich nur noch weinen, aber dazu fehlten mir der Ort und die Zeit.
Lew antwortete am 27. Januar:
Mein teurer Liebling Swetloje, verzeih mir – erneut. Ich weiß selbst, dass die Sache mit den Briefen nur auf meine Albernheit zurückzuführen ist. Meine liebe Swet, mein Schatz, ich habe den Kopf verloren. Ich wusste einfach nicht, was ich mit mir anfangen oder was ich überhaupt tun sollte. Klar war mir bloß, dass es keinen Zweck hatte, zu heulen oder wütend zu werden, aber da war eben noch alles andere: die Sorge um Dich, die Furcht, dass Du mich vielleicht nicht mehr liebst, meine Sehnsucht nach Dir, noch mehr Sorge, dann Eifersucht, Wut über mich selbst wegen meiner eigenen Dummheit, der Wunsch, Dir gegenüber alles zu beklagen. Nichts davon wollte sich meiner Selbstbeherrschung fügen, bis ich fast der Verzweiflung nahe war … Ich schäme
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