Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
18 Monate auf das Ende seiner Haftzeit warten musste. Sie hatte ihn seit zwei Jahren nicht gesehen – die längste Trennung seit ihrer Wiederbegegnung von 1946.
Es waren nicht nur Häftlinge, die auf dem Fußboden der Iwanows schliefen. Viele der freien Arbeiter, die Lew und Sweta geholfen hatten, wurden von ihr einquartiert, wenn sie nach Moskau kamen. Unter den lockereren Bedingungen nach Stalins Tod war es in der Regel leichter, Reisen zu machen, und die Löhne dieser Arbeiter hatten sich durch »nördliche Zulagen« (als Anreiz, im Lager zu bleiben) beträchtlich erhöht. Stanislaw Jachowitsch, der polnische Mechaniker im Kraftwerk, der Briefe für Lew in die Industriezone hinein- und aus ihr herausgeschmuggelt hatte, wollte nach einem Urlaub auf der Krim seine Rückfahrt nach Petschora durch einen Aufenthalt in Moskau unterbrechen. »Er würde gern bei Euch für 8 Stunden des Tages Nutzen aus einer Matratze und 2 Quadratmeter Fußboden ziehen«, kündigte Lew an. »Er wird Dich rechtzeitig per Postkarte informieren, wann er eintrifft. Falls Du ihn vergessen hast – er ist leicht an seinem Schielauge und seiner polnischen Aussprache des Buchstaben ›L‹ (›Waus‹ statt ›Laus‹) zu erkennen.«
Lew Israilewitsch, der Sweta auf ihrer ersten Reise nach Petschora in die Gefängniszone geschmuggelt hatte, war einer von mehreren Besuchern im Juni 1953. In jenem Monat beherbergte Sweta auch die Baschuns. Iwan Baschun war ein erfahrener Mechaniker im Kraftwerk, der ebenfalls den Briefkurier für Lew gespielt hatte. Das provinzielle Benehmen des Paares ging Sweta auf die Nerven – sie bemühte sich nicht, ihr Missfallen zu verbergen –, doch sie tat ihr Bestes, um die beiden zu unterhalten. »Nina und Iw[an] sind eine Woche lang bei mir gewesen«, schrieb Sweta Lew am 3. Juli.
Ich habe ihnen gesagt, dass ich ihnen eine 3 minus für ihr Auftreten in Moskau geben würde, aber, ganz ehrlich, es hätte die schlechteste Note sein müssen. Sie sind außer in den Geschäften nirgendwo gewesen. Wenn ich sie nicht zum [Lenin-]Mausoleum und zur Universität begleitet hätte, hätten sie überhaupt nichts gesehen. Nichts machte einen Eindruck auf sie – weder die Metro noch die hohen Gebäude, weder der Ausblick auf die Stadt von den Lenin-Hügeln noch das Bolschoi-Theater. Ich war völlig ratlos und erschöpft durch meine Anstrengungen, sie bei Laune zu halten. Sie kauften nichts, abgesehen von ein paar Einkaufstaschen und einem Geschenk für Slawik, denn sie sind überzeugt, dass alles, was man in Moskau bekommt, auch in Kotlas verfügbar ist, und was sie dort nicht hätten, sei auch hier nicht zu finden.
Für die in Petschora verbliebenen Häftlinge kam es nach Stalins Tod zu einigen Verbesserungen. Da ihre Zahl in der Gefängniszone zurückging, waren die Unterkünfte weniger beengt. 1953 baute man neue Baracken mit Einzelbetten statt der doppelreihigen Etagenbetten, die bei Lews Ankunft im Jahr 1946 die Norm gewesen waren. Es gab mehr kulturelle Aktivitäten für die Häftlinge: Sie konnten im Clubhaus regelmäßig Filme, Theaterstücke und Konzerte besuchen; ab und zu traten dort auch Bands zu Tanzveranstaltungen auf; der Kulturpalast sowie das Fußballstadion, beide außerhalb des Holzkombinats im Ort selbst, standen den Häftlingen häufiger offen. (Der Zivilsektor von Petschora entwickelte sich zu einer eigenen Ortschaft mit 25 000 Einwohnern, mit Läden und Marktständen, einem Restaurant, einer mit Lastwagen betriebenen Buslinie und einem Rundfunksender, der auf den Straßen über Lautsprecher zu hören war.) Auch der separate Sender für die Häftlinge im Holzkombinat wurde verbessert: Zum ersten Mal konnte man in den Baracken landesweiten Übertragungen lauschen. Die Häftlinge durften mehr Briefe schreiben, und die Zensoren schenkten diesen weniger Aufmerksamkeit als zuvor.
Im Januar 1954 veröffentlichten die Behörden des Holzkombinats an den Anschlagbrettern ein neues Gesetz des OberstenSowjets, wonach es den Wärtern verboten war, Gewalt gegen die Häftlinge anzuwenden. Außerdem sollten Klagen von Häftlingen über ein solches Verhalten zu Gerichtsverfahren führen: Für schuldig befundene Wärter müssten, so hieß es, mit einer Gefängnisstrafe und in extremen Fällen sogar mit dem Todesurteil rechnen. Zuvor hatte es immer wieder Situationen gegeben, in denen Häftlinge von Wärtern getötet oder verprügelt worden waren – manchmal aus Rache für eine angebliche Beleidigung oder weil
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