Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Schocks und der Aufregung. »Stalins Tod war so überraschend«, schrieb Lew am 8. März, »dass es anfangs schwerfiel, ihn für wahr zu halten. Es war das gleiche Gefühl wie in den ersten Kriegstagen.« Mehr hatte er über die denkwürdige Nachricht nicht zu sagen, obwohl er gehofft haben muss, dass sie zu einer politischen Neubewertung der Arbeitslager und möglicherweise zu seiner vorzeitigen Entlassung führen würde. Auch Sweta war vorsichtig in ihren Äußerungen, wenngleich sie nicht ihre Freude darüber verbergen konnte, dass sie in diesem womöglich einschneidenden Moment durch das Radio mit Lew vereint worden war. »So etwas wie in der letzten Woche hat es in Moskau noch nie gegeben«, teilte sie Lew am 11. März mit. »Und oftmals dachte ich, wie schön es ist, dass das Radio erfunden wurde, wodurch die Menschen dieselben Nachrichten zur selben Zeit hören können. Und es ist gut, dass wir Zeitungen haben. Ich werde versuchen, Dir irgendwann noch mehr dazu zu sagen, aber nicht jetzt, denn ich muss darüber nachdenken, wie ich meine Gefühle in ein paar klare Worte fassen kann.«
Die einzigen Orte, an denen man die Kunde von Stalins Tod mit unverhüllter Freude aufnahm, waren die Arbeitslager und -kolonien des Gulag. Natürlich gab es Ausnahmen, Lager, in denen die Wachsamkeit der Behörden oder die Anwesenheit von Spitzeln die Häftlinge daran hinderte, ihr Glück zur Schau zu tragen, doch im Allgemeinen wurde die Nachricht von Stalins Ende mit spontanem Jubel begrüßt. »Niemand weinte um Stalin«, erinnerte sich Lew. Die Häftlinge hegten keinen Zweifel daran, dass Stalin schuld an ihrem Elend war, und sie scheuten sich nicht, ihre Verachtung für ihn auszudrücken, wenn sie sich sicher fühlten. Lew schilderte einen Vorfall vom Oktober1952 , als die Insassen seiner Baracke einer Rundfunksendung über die Ergebnisse der Wahl zum Präsidium des Zentralkomitees lauschten. Die Stimmen, welche die Kandidaten erhalten hatten, wurden der Reihe nach verlesen, und jedes Mal fügte der Sprecher hinzu: »Sa Stalina! Sa Stalina!« (»Für Stalin!«) Einige Häftlinge begannen stattdessen zu rufen: » Sastawili! Sastawili!« (»Sie sind gezwungen worden!«), was bedeuten sollte, dass die Wahl manipuliert war. Schließlich machten alle mit und lachten spöttisch.
Unter den Häftlingen ging die Erwartung um, dass sie nach Stalins Tod entlassen werden würden. Am 27. März verkündete die Regierung eine Amnestie für Personen, die zu weniger als fünf Jahren verurteilt worden waren oder die wegen Wirtschaftsverbrechen einsaßen, für Männer über 55, für Frauen über fünfzig und für Häftlinge mit unheilbaren Krankheiten – ein Dekret, das in den folgenden Monaten die Entlassung von etwa einer Million Gefangenen nach sich zog. Im Holzkombinat wurde die Lagerbevölkerung im Jahr 1953 durch die Amnestie halbiert (von 1263 auf 627). Die Mehrzahl der Entlassenen waren Kriminelle, die nun zu randalieren anfingen, Läden plünderten, Häuser ausraubten, Frauen vergewaltigten und überall im Ort Terror verbreiteten. »Manche unserer Leute sind schon draußen und laufen ungehindert in Petschora herum«, schrieb Lew am 10. April.
Sie nutzen jede Möglichkeit, zu rauben und zu stehlen. Die unangenehmsten Typen verlassen uns – Makarow, ein gut aussehender Kerl mit einem Bart … Er hat 8 Jahre wegen Raubüberfalls abgesessen. Auch Kolja Neschinski geht – er erhielt1947 , als er bereits im Lager war, zehn Jahre wegen Diebstahls von 6 kg Kascha. Letztes Jahr stahl er dann 300 Rubel von einem der Männer und klaute nach und nach alles, was er an sich bringen konnte, von N. und seinen anderen Nachbarn. Trotz alledem kann man ihn nur wegen der Dummheit und Ungerechtigkeit seiner ersten Verurteilung bemitleiden, ohne die er vielleicht kein Dieb geworden wäre.
Lew hoffte, dass man die Amnestie auf »Politische« ausweiten würde. Einige der Techniker im Kraftwerk waren vom MWD ermutigt worden, ihre Entlassung zu beantragen. Alle waren aufgrund von Artikel 58–11 (Zugehörigkeit zu einer antisowjetischen Organisation) verurteilt worden, der nicht so schwer wog wie Lews Paragraf, aber immerhin genug Ähnlichkeit damit aufwies, um Lew davon träumen zu lassen, dass sich die Amnestie auch auf ihn erstrecken würde. Bald wurde er enttäuscht. »Wie sich zeigte«, schrieb erSweta am 14. April, »war alles ein Irrtum der hiesigen Wärter, und es wird keine Ausweitung der Amnestie geben … Was für ein grausamer Irrtum
Weitere Kostenlose Bücher