Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
– die Männer hatten sich bereits darauf eingestellt, und ihre Angehörigen rechneten mit ihrer Entlassung.«
Der Rückgang der Gefängnisbevölkerung hatte einen chronischen Arbeitskräftemangel im Holzkombinat zur Folge. Ohne eine ausreichende Zahl von Häftlingen, die das Holz fällten und transportierten, sank der Nachschub an Brennstoff und Rohmaterial drastisch. Die Verwaltung des Arbeitslagers, die im Mai 1953 vom Gulag auf das Verkehrsministerium übergegangen war, versuchte den Personalmangel dadurch wettzumachen, dass sie frisch entlassene Häftlinge in Petschora zurückhielt. Zu diesem Zweck wandten die MWD-Funktionäre, welche die Entlassungen überwachten, unterschiedliche Strategien an: Sie verweigerten den Männern die Reisepapiere oder das Geld für die Bahnfahrkarten oder versicherten ihnen, dass sie nirgendwo anders eine Beschäftigung finden würden, und boten ihnen Anreize dafür, als Lohnarbeiter am Ort zu bleiben. Manchen versprach man eine Ausbildung, damit sie die durch die Amnestie freigelassenen Facharbeiter und Handwerker ersetzen konnten. Ende 1953 wurden 224 frühere Häftlinge des Holzkombinats als Fahrer, Tischler, Maschinisten, Mechaniker und Elektriker geschult (Lew war daran beteiligt, einige von ihnen auf die Schichtarbeit im Kraftwerk vorzubereiten). Doch trotz dieser Bemühungen verzeichnete das Holzkombinat einen dramatischen Rückgang der Produktivität. Der Plan wurde nicht erfüllt, Löhne und Rationen wurden gesenkt, und freie Arbeiter verschwanden, um in anderen Arbeitslagern (wo ähnliche Probleme auftraten) nach besseren Bedingungen zu suchen. »Hier in Petschora sind allgemeine Kürzungen an der Tagesordnung«, schrieb Lew an Sweta, »und die Leute wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen, schon gar nicht jene, die einen Regenschirm im Gepäck haben [d. h. frühere Häftlinge].« 49
Die Arbeitssuche nach der Heimkehr gestaltete sich für die gerade entlassenen Gefangenen tatsächlich schwierig. Sowjetfunktionäre verhielten sich im Allgemeinen misstrauisch gegenüber ehemaligen Häftlingen, und viele Arbeitgeber sahen in ihnen weiterhin potenzielle Unruhestifter und »Volksfeinde«. Das Problem der Arbeitslosigkeit war so drückend, dass manche Ehemalige ins Lager zurückkehrten. Ihnen blieb kaum eine Wahl, wenn sie keine Angehörigen oder Freunde hatten, die ihnen auf die Beine halfen. Nur im Lager konnten sie sicher sein, eine Beschäftigung zu finden: als freie oder halb freie Arbeiter (die einen Lohn erhielten, die Siedlung aber nicht verlassen durften). Im Juli 1953 waren im Holzkombinat über hundert Exhäftlinge als halb freie Arbeiter tätig, und Ende 1954 zählte man gar 459. Viele wohnten in den Baracken der früheren 1. Kolonie knapp außerhalb des Zaunes der Industriezone. Man zahlte ihnen ungefähr 200 Rubel im Monat – den Mindestlohn ohne »nördliche Zulage«, mit der freie Arbeiter in die Arktis gelockt wurden –, doch sie erhielten das Geld nur, wenn sie sich zweimal pro Woche bei der Verwaltung des Arbeitslagers meldeten. Einer dieser gebundenen Arbeiter war Pawel Bannikow, ein Häftling aus Lews Baracke, der ins Holzkombinat zurückkehrte, nachdem er im Moskauer Gebiet keine Stelle gefunden hatte. »[Bannikow] ist seit vier Tagen wieder bei uns«, schrieb Lew an Sweta. »Er betrachtet dies als Zwischenstation und denkt daran, im Herbst anderswo nach einem besseren Posten Ausschau zu halten. Er schilderte mir seine Eindrücke von Moskau, die interessant waren, weil sie einerseits die Erinnerung an einzelne Dinge weckten, die einem im Rückblick teuer sind, und weil sie andererseits Neues beschrieben.«
Bannikow hatte Sweta besucht. Sie brachte viele Häftlinge unter, die nach der Entlassung aus Petschora in Moskau ankamen. Lew gab ihnen Swetas Adresse und bat sie, den Männern in der Hauptstadt zu helfen. »Liebling Swetloje«, schrieb er am 12. Juni, »Konon Sidorowitsch [Tkatschenko] hat es Dir vielleicht mitgeteilt – andernfalls habe ich es bestimmt getan –, dass Witali Iwanowitsch Kusora bei Dir vorbeikommen würde. Hier ist er also: sehr ordentlich und dazu bescheiden. Ich weiß nicht, ob sich seine Pläne in Moskau verwirklichenlassen. Vielleicht braucht er für ein oder zwei Nächte Quartier. Es ist lästig, ich weiß, besonders im Moment, aber das hier wird nicht viel länger so weitergehen, höchstens anderthalb Jahre.« Es muss frustrierend für Sweta gewesen sein, diese Fremden aus dem Lager aufzunehmen, während Lew noch
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