Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
zu ziehen«, schrieb er Sweta,
habe ich immer noch keine eindeutige Nachricht. Viele sind gezwungen worden, sich am Rand ähnlicher Städte niederzulassen. Andere wohnen aber auch in Orten wie Lwow. Es ist unklar, was den Unterschied bewirkt – die Willkür der Verantwortlichen oder persönliche Mittel, einschließlich der Fähigkeit, Vitamine zu nutzen [Bestechungsgelder zu zahlen]. Wie auch immer, ich glaube, es wird möglich sein, 10 bis 15 Kilometer von Jar[oslawl] entfernt zu wohnen. Ich kann bei Freunden von Nikolai [einem Häftling im Holzkombinat] unterkommen, wo ich meinen Koffer abstellen und ein paar Nächte verbringen werde, bis ich ein Eckchen für mich und irgendeine Arbeit finde. Apropos, ich will und werde keine Verwandten oder Freunde besuchen, bevor ich einen Arbeitsplatz und eine Bleibe habe. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass jemand mein Diplom ausfindig macht. Also ist es wohl am besten, wenn ich es mir selbst besorge, nachdem ich mich dort, wohin Gott mich schicken mag, orientiert habe. In der Zwischenzeit werde ich Arbeit als Monteur oder Ähnliches in irgendeinem Elektrowerk suchen. Dabei stelle ich keine Anforderungen, abgesehen von mindestens 500–600 Rubel imMonat. Mit dem Diplom in der Hand werde ich einen besseren Posten – im selben Betrieb oder in derselben Abteilung – bekommen oder es anderswo versuchen können … Diese »Übergangsperiode« könnte 6 bis 12 Monate dauern.
Lew hatte Sweta bereits gewarnt, dass er sie in dieser »Übergangsperiode« nur gelegentlich – und jeweils bloß ein paar Stunden – würde besuchen können. Es war unwahrscheinlich, dass seine Entlassungsbedingungen ihm gestatten würden, jeweils länger als 24 Stunden in Moskau zu verbringen, und wenn er eine Stelle in einer Provinzstadt fand, würde er, wie jeder andere in der Sowjetunion, sechs Tage pro Woche arbeiten müssen. Er hoffte jedoch, dass man ihm »irgendwann später«, wenn er sich sein Diplom beschafft und einen besseren Arbeitsplatz gefunden hatte, »endlich erlauben« würde »heimzukehren«. Bis dahin, darauf bestand Lew, sollte Sweta bei ihren Eltern bleiben. Nach all den Jahren des Wartens darauf, wieder mit ihr zusammen zu sein, hatte er gelernt, sich zu gedulden.
Mein Liebling Sweta, was ich nun schreiben werde, stützt sich nur auf meine vorläufigen Gedanken. Also gerate nicht aus der Fassung, wenn Du meinst, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Früher oder später, so oder so, werden wir eine nicht zu schlechte Lösung finden. Und wenn sie nicht hundertprozentig wunderbar ist – nun, dann lässt es sich nicht ändern. Es wird immer noch besser sein als das, was wir früher hatten oder jetzt haben. Sweta, natürlich musst Du in der Nähe Deiner Mama sein, und das nicht nur für den Fall, dass sich ihre Gesundheit oder die Deines Papas verschlechtert – ihr Zustand ist bereits schlimm genug, und wenn Du fortgehst, könnte er sich noch verschlimmern … Was bedeutet, dass es im Grunde nur eine einzige Lösung gibt: Ich muss versuchen, so dicht wie möglich bei Dir Arbeit zu finden, damit wir, wenn wir schon nicht ständig zusammen sein können, wenigstens einen Tag von sieben miteinander verbringen. Das ist viel besser als die Situation der vergangenen 13 Jahre.
Lews Hoffnung wuchs durch das frühe Tauwetter des Jahres 1954. »Der Frühling ist jetzt seit drei Tagen bei uns«, schrieb er am 25. März. »Nach dem frisch gefallenen Schnee von vorgestern ist bereits alles grau und matschig, und unsere Füße sinken ständig ein.« In diesem Jahr war der Frühling für Lew verheißungsvoll, denn die Entlassung der Häftlinge beschleunigte sich, und er erwartete, irgendwann in den kommenden Monaten frei zu sein. Diese Aussicht brachte ihn dazu, des Öfteren Lyrik zu zitieren, vor allem Puschkin:
In der Hoffnung auf Ruhm und Erfolg
Blicke ich furchtlos in die Zukunft.
Auch Sweta wurde durch die Erwartung von Lews Rückkehr beflügelt. »Mein Liebling«, teilte sie ihm mit, »ich wollte Dir schreiben, wie gut ich mich in letzter Zeit fühle. Ich gehe freundlich mit allen um. Meine Stimmung ist so sehr gestiegen. Es kommt mir vor, als hättest Du mich heute Morgen, wie früher, auf dem Weg zur Straßenbahn begrüßt und als hätten wir später noch den ganzen Abend vor uns.«
Wo und wie würden sie sich endlich treffen? Sweta wollte Lew in den ersten Tagen ganz für sich allein haben. Dafür war sie bereit, überallhin zu reisen, sogar nach
Weitere Kostenlose Bücher