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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Petschora, um ihn abzuholen und mit ihm heimzukehren. »Ich kann mir vorstellen«, versicherte sie ihm, »dass ich irgendwann fähig sein werde, für ein oder zwei Monate von Dir fort zu sein, aber zurzeit will ich Dich nicht aus den Augen lassen, nicht einmal für eine Stunde.«
     
Du musst mir sagen, ob ich Dich abholen soll. Wenn ja, dann werde ich später in der Lage sein, Dich all den Tanten jeweils mehrere Minuten lang zu überlassen … Es gibt keinen Grund für Dich, je wieder allein zu sein. Das könnte ich sicherstellen, indem ich überall hinter Dir herginge. Ich wäre wie ein Schatten, aber wenigstens bräuchte ich nicht zu befürchten, Dich wieder zu verlieren. Ich möchte nicht, dass unser erstes Treffen in Gegenwart anderer Menschen stattfindet, und dabei mache ich keineAusnahme – nicht für Deine Tanten oder meine Eltern oder irgendwelche Freunde. Ich habe einen grässlichen Charakter.
     
    Auch Lew wollte Sweta so schnell wie möglich wiedersehen. Er hoffte, von Petschora aus direkt nach Moskau fahren zu können, »und sei es nur für einen oder zwei Tage«, schrieb er am 10. Mai, »und nur, um Dich zu treffen«.
    Was Lews Chancen auf eine dauerhaftere Rückkehr nach Moskau anging, war er pessimistisch. Um in Moskau zu wohnen, benötigte er einen »sauberen« Pass, den er nur bekommen würde, wenn man ihn nach seiner Entlassung offiziell rehabilitierte oder begnadigte, und auf beides hatte er wenig Aussicht. »Ich glaube nicht, wenn ich den Kern der Sache richtig verstehe, dass irgendwelche Bemühungen gegenwärtig etwas Positives hervorbringen würden«, hatte er Sweta am 11. April geschrieben. »Eine vollständige Rehabilitierung kommt nicht in Frage, und eine Begnadigung brächte für die Zukunft keinerlei Vorteil, solange frühere Urteile nicht aufgehoben werden.« Lew machte sich keine Illusionen, dass sein Verbrechen gegen den Staat durch eine Berufung für ungeschehen erklärt werden könnte. Selbst wenn sämtliche Tatsachen seines Verhaltens im Krieg bei der Verhandlung von 1945 berücksichtigt worden wären, hätte man ihn, wie er nun meinte, trotzdem verurteilt, wiewohl zu einer kürzeren Gefängnisstrafe, da er sich in den deutschen Lagern als Dolmetscher hatte einsetzen lassen. Der Hinweis auf seine Verurteilung würde nicht aus seinem Pass getilgt werden.
    Dass Lew seine Teilschuld akzeptierte, war neu für sein Denken. In ihren früheren Erörterungen über eine Berufung (1946/47) hatte er diese Schuld nicht eingeräumt oder für seine Argumente gegen Swetas Vorschlag verwendet, um Aufhebung seines Urteils nachzusuchen. Vielleicht hatten die langen Jahre im Lager ihn derart zermürbt, dass er das ihm zugefügte Unrecht mittlerweile hinnahm. Jedenfalls hatten die Jahre ihn gelehrt, dass seine eigene Situation nichts Besonderes war. Es gab viele andere wie ihn. »Ich könnte eine Änderung meiner persönlichen Umstände beantragen, wenn ich etwa überzeugende Argumente dafür hätte, ein Kriegsheld gewesenzu sein oder wenigstens einen Orden verdient zu haben«, erklärte er Sweta am 10. Mai.
     
Aber nicht einmal ich glaube das. Im Gegenteil, ich halte mich für schuldig – nur nicht in dem Maße, wie es [im Urteil] dargelegt ist. Wäre alles korrekt niedergeschrieben und in Betracht gezogen worden, hätte ich vielleicht 5 oder 3 [Jahre] – oder noch weniger – erhalten. Aber irgendetwas, »mit allen Konsequenzen«, wäre auf jeden Fall geblieben. Und deshalb ist es unmöglich, zu verlangen, dass etwas unternommen wird, als wäre nichts geschehen. Was sollte unternommen werden? Und auf welcher Grundlage? Gewiss, für viele Menschen ist es schwierig gewesen, doch das ist kein Anlass dafür, es allen leichter zu machen. Und wenn es für eine Person leichter gemacht wird, warum dann ausgerechnet für mich? An mir ist nichts Besonderes, das so etwas rechtfertigen würde. Weil ich interessantere und nützlichere Arbeit leisten kann? In Wirklichkeit meine ich, dass ich in meinem neuesten Beruf (Elektriker) nützlicher sein kann als durch wissenschaftliche Arbeit, geschweige denn durch wissenschaftliche Forschung. Heute werde ich niemals mehr zu einem wissenschaftlichen Forscher werden, doch zu einem brauchbaren Techniker – möglicherweise.
     
    Inzwischen hatte Sweta sich damit abgefunden, dass Lew und sie nach seiner Entlassung aller Wahrscheinlichkeit nach getrennt leben würden. Dies war nach all den Jahren des Wartens schwer zu akzeptieren, aber sie musste sich um ihre Eltern

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