Schicksal aus zweiter Hand
kommen?«
»Ich halte das nicht für notwendig. Die Werke liegen in Ihren Händen – ich wüßte keinen besseren als Sie … außer mir.«
»Danke, Herr Gerholdt.« Dr. Schwab lächelte still. Außer mir – das war eine typische Gerholdt-Antwort. Außer mir – so betrachtete er die ganze Welt. Hier die Erde mit ihren 2,4 Milliarden Menschen – dort Frank Gerholdt mit seinem Eisenschädel. Dr. Schwab überflog die Briefe und Berichte, die auf seinem Schreibtisch aufgehäuft lagen.
»Ich würde empfehlen, vor Ihrer Reise noch einmal nach Düsseldorf zu kommen. Wie lange könnte Ihre Reise dauern?«
»Überschlägig drei Jahre.«
Dr. Schwab schüttelte den Kopf. »Unmöglich.«
»Sie haben volle Handlungsfreiheit, Dr. Schwab.« Frank Gerholdt fühlte, daß er schwitzte. Es war aber nicht die drückende Hitze in der kleinen Telefonkabine, sondern die Erregung, die ihn durchzog. Er stand vor einem neuen Wendepunkt seines Lebens … wie er einst vor den Russen flüchtete, flüchtete er jetzt vor seinem eigenen Ich. Er ging hinaus in die Weite der Welt, für Jahre weg von seinem Werk, aus Angst. Aus nackter Angst vor einem ahnungslosen, jungen, verliebten Mann. »Ich gebe Ihnen alle Vollmachten! Sie sind praktisch der Besitzer, Dr. Schwab. Ich mache Sie sogar zum Teilhaber! Ich will mich in den kommenden Jahren nur um die Auslandswerke kümmern! Bitte, wohnen Sie auch in meinem Haus am Rhein.«
Dr. Schwab saß erstarrt in seinem Sessel und blickte auf das Bild des alten Silberbaum, das noch immer in Gerholdts Zimmer hing. Nicht aus Pietät, sondern aus einer stillen Bewunderung heraus, die Gerholdt diesem alten Mann zollte. Mit Silberbaum begann der Himmelssturm Gerholdts … das vergaß er ihm nicht, und deshalb ließ er das vergilbte Foto in dem dumpfen, schwarzen, glatten Rahmen hängen.
»Ich verstehe das alles nicht …«, sagte Dr. Schwab ehrlich. »Bisher haben wir doch – – –«
»Bisher!« Gerholdt wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn wir im Leben beim Bisher stehenbleiben, lohnt es sich nicht, zu leben! Wir müssen immer an das Morgen denken, an das Weiter, Höher! Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, von hier nach Düsseldorf zurückzukommen. Ich fliege von Rom gleich nach Monrovia. Wenn Sie etwas Wichtiges haben, so kommen Sie bitte nach Ischia.«
Er legte auf und überließ Dr. Schwab seinen Gedanken.
Auf der Terrasse setzte er sich an das Geländer unter einen Sonnenschirm, bestellte einen Aperitif und sah hinunter zu Rita, die gerade ins Meer ging, um zu schwimmen. Ihr goldener Badeanzug leuchtete und warf die Sonne zurück in einem konzentrierten Strahlenbündel.
Der Ober, der ihm den Aperitif brachte, folgte seinem Blick und nickte.
»Bella Signorina«, sagte er lächelnd. »Wird machen alle Männer zu Idioten …«
Frank Gerholdt lachte. Es war wie eine Befreiung. »Wir sind es schon, Beppo«, sagte er laut. »Am meisten ich – und es wäre bitter für mich, plötzlich vernünftig zu werden.«
Der Kellner verstand ihn nicht. Er nickte nur. »Si, Signore …«
Über Ischia brannte die Sonne. Ein herrlicher Tag. An der Seite des Hotels, dort, wo es über dem Steilhang hängt wie ein Nest, lehnte sich Gerholdt über das eiserne Geländer und streute die Fetzen des Briefes hinab ins Meer. Seite nach Seite zerriß er in kleine Stücke … nur die letzte Seite las er noch einmal, ehe er sie zerfetzte.
»… Ich gebe Dir den Rat, ihm zu schreiben. Ich glaube, er liebt Dich wirklich, und es ist nicht gut, wenn man ein Herz enttäuscht, das sich entschieden hat.
Ich denke dabei auch an mein Leben, liebe Rita. Es hörte auf, als Angerburg von den Russen erobert wurde, und mein Herz liegt auch dort. Ich habe es zurückgelassen, und ich würde alle Schätze dieser Welt hergeben für das Glück, alles noch einmal wiederzusehen: das Haus, die Felder, die Ställe, die Möbel und die Gräber … Wenn Du erst diese Sehnsucht hast, Gräber wiederzusehen, ist es zu spät zum Glück. Darum überleg es Dir gut … schreibe ihm Ja oder Nein. Nur schweige nicht. Es gibt nichts Schlimmeres als Schweigen – – –«
Frank Gerholdt sah den Schnipseln nach, wie sie hinab zum Meer flatterten. Schneeflocken inmitten einer glühenden Sonne … vielleicht ein weggeworfenes Glück für Rita … aber für einen Frank Gerholdt die letzte und einzige Rettung.
Erschreckend erkannte Gerholdt, daß er an diesem Tage nicht für Rita, sondern für sich selbst handelte. Er dachte nicht an sein Kind –
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