Schicksalsmord (German Edition)
Vernunft.
Leider sah Lydia das völlig anders. Sie geriet sogar richtig in Wut, bestand darauf, ihren Mann allein zu beerdigen und seine Exfrau nicht dabei haben zu wollen – in Ausübung ihres Hausrechtes als Witwe. Mir klappte der Kiefer nach unten. „Hausrecht auf dem Friedhof? Bist du noch bei Trost, Lydia?“, fragte ich.
„Ja das bin ich, und ich kenne meine Rechte. Im Übrigen brauchst du dich um nichts zu kümmern. Ich werde ihn erst dann beisetzen lassen, wenn meine Unschuld erwiesen und ich auf freiem Fuß bin.“
„Ja und was soll bis dahin mit ihm geschehen?“, fragte ich fassungslos.
„Das ist kein Problem.“ Lydia hatte offenbar schon alles durchdacht. „Wir veranlassen jetzt die Kremierung ohne Trauerfeier und die Urne kann dann erst einmal in der Leichenhalle untergestellt werden.“
Und so geschah es. Hätte Lydia sich einer sofortigen Beisetzung nicht in den Weg gestellt, hätten sich die Dinge für sie vielleicht noch zum Guten wenden können.
Ich widmete mich jedenfalls erst einmal weiterhin den Umzugsvorbereitungen. Es ist kein einfaches Unterfangen, ein Haus zu räumen, in dem eine Familie seit drei Generationen gelebt hat. Unglaublich, was sich so ansammelt, wenn immer der Platz vorhanden war, nicht mehr benötigte Dinge erst einmal abzulegen oder unterzustellen. Bereits nach Vaters Tod hatte ich mehrere Aktionen gestartet und das Haus entrümpelt. Es war jedoch trotzdem immer noch genug vorhanden, um mich fast zur Verzweiflung zu treiben, ich wusste kaum, wo ich anfangen sollte.
Meine Mutter, die mir nur im Sitzen helfen konnte, nahm sich den Inhalt der Schränke vor. Da saß sie nun, zwischen Bergen von Tischwäsche, die noch von meiner Großmutter stammte, angefangenen und nie beendeten Handarbeiten, Kartons mit Wolle und Garnen und bemühte sich, Verwendbares von Verzichtbarem zu trennen. Immer wieder geriet sie dabei über erinnerungsträchtigen Stücken ins Sinnen. Am meisten fesselten sie die Familienfotos, die sie in einem großen Schuhkarton im Wohnzimmerbuffet aufbewahrte.
Ich wusste, dass es noch mehr Fotos gab, sorgfältig verborgen in ihrem Schlafzimmer und von kindlicher Neugier auf der Suche nach dem Versteck der Weihnachtsgeschenke längst erspäht. Es waren Bilder aus der Zeit ihrer kurzen, unglückseligen ersten Ehe, von denen sie sich trotz allem nicht zu trennen vermochte.
In ihrer Jugend war meine Mutter eine ausgesprochene Schönheit gewesen. Ihre Figur war schlank und graziös, sie hatte einen makellosen Teint und große, leuchtend blaue Augen, die ihr ebenmäßiges Gesicht beherrschten, das von einer wahren Flut herrlicher, kastanienbrauner Haare umrahmt wurde. Sie wurde entsprechend umschwärmt und es erschien als geradezu gesetzmäßig, dass sie und der attraktivste Mann weit und breit ein Paar wurden. Nur passte dieser Mann ihren Eltern überhaupt nicht.
Meine Großeltern, die ich nicht mehr kennenlernen sollte, besaßen eine gut gehende Weberei, die ihnen zu einem gehobenen Lebensstandard verhalf. Doch sie waren nicht flexibel. Und so versäumten sie erst notwendige Modernisierungen und Produktionsumstellungen, und später den rechtzeitigen Verkauf des nicht mehr rentablen Unternehmens. Als der Konkurs nicht mehr abzuwenden war, konnten sie lediglich ihr Wohnhaus und ihren Standesdünkel retten, Vermögen besaßen sie keines mehr.
Dennoch erschien ihnen der Krankenpfleger Gernot Schwarz als gänzlich ungeeignete Partie für die einzige Tochter. Doch die war bis über beide Ohren in den Mann mit der blendenden Erscheinung verliebt. Nicht einmal der ihm vorauseilende Ruf als Frauenheld und Casanova vermochte sie abzuschrecken. Gernot Schwarz war schwarzhaarig und dunkeläugig, er wirkte südländisch und spielte gern ein wenig mit diesem Image, obwohl seine Vorfahren erwiesenermaßen seit vielen Generationen aus Bayern stammten. Er und meine Mutter waren das, was man heute ein Traumpaar nennen würde, jedenfalls was die äußere Erscheinung betraf. Es gibt ein Foto, das sie eng umschlungen im Kurpark vor einem Springbrunnen zeigt. Ein Luftzug lässt das leichte Sommerkleid meiner Mutter hochwehen und eine feine Wasserfontäne über ihre Köpfe hinweg sprühen. Meine Mutter lacht so übermütig, wie ich es später niemals bei ihr gesehen habe. Geradezu entrückt vor Glück wirkt sie auf ihrem Hochzeitsbild, ganz in weiße Spitzen gehüllt und sich sanft an ihren stattlichen Ehemann schmiegend. Gegen den Willen ihrer Eltern hatte sie die Heirat durch
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