Schicksalspfad Roman
auszuruhen.
Heute erreichte sie das Krankenhaus ohne eine Ahnung, was auf sie zukam. Als sie aus dem Aufzug trat, bemerkte sie als Erstes, dass es auf dem Gang unheimlich still war. Niemand bellte ins Telefon, kein Gelächter drang aus den Zimmern, kein Zeichen von irgendjemandem. Grace ging auf direktem Weg in die Pavarotti-Suite,
wie immer, weil sie plötzlich beunruhigt dachte, mit Matt wäre etwas geschehen. Was sonst würde das Schweigen auf den Gängen erklären?
Aber als sie den Kopf durch die Tür schob, saß er aufrecht im Bett und verschlang fröhlich ein chinesisches Fertiggericht. Er streckte es ihr mit erwartungsvoll hochgezogenen Brauen entgegen. In letzter Zeit hatte er oft versucht, Grace einzubeziehen, ob es um das Essen ging oder eine Wortsuche in einem billigen Rätselbuch. Diese Bücher wurden normalerweise nur von Kindern oder lernbehinderten Erwachsenen benutzt, aber für Matt gehörte es zur Therapie, und er wurde immer ganz aufgeregt, wenn er ein langes Wort auf der Diagonale identifizieren konnte. Eines Nachts nahm Grace seine Einladung an, neben ihm zu sitzen und ein Tennismatch zwischen zwei Frauen anzusehen. Dabei erfuhr sie, dass er mit einer der Spielerinnen ausgegangen war, einer niedlichen Schweizer Brünetten, die das Spiel aber verlor.
»Kommen Sie, nur einen Bissen«, sagte Matt und hielt ihr eine Gabel voll entgegen.
»Nein, danke«, ewiderte Grace. »Aber es riecht sehr gut.«
»Jaja«, meinte Matt, »aber wir haben vielleicht keine weitere Gelegenheit …!« Er verstummte, als würde ihm ein Wort fehlen.
»Zusammen zu essen?«, half Grace ihm aus.
Matt lächelte, was auf Grace igendwie kindlich wirkte. »Ja«, sagte er dann. »Ich esse nicht gerne alleine.«
»Das kenne ich«, meinte Grace, obwohl sie sich nicht einmal daran erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal mit jemandem zusammen gegessen hatte. »Im Moment
habe ich eine Menge zu tun. Ich komme sobald wie möglich wieder. Okay?«
Beim Umdrehen rief Matt ihren Namen. Grace wandte sich zu ihm um.
»Ich habe von Ihrer Wohngenossin gehört«, sagte Matt.
»Meiner Wohngenossin?«
»Ich habe gehört, dass sie einen schweren Fehler gemacht hat. Einer ihrer Patienten ist gestorben. Daher ist sie früher nach Hause gegangen.«
Cherry, dachte Grace, da Joanne heute frei hatte. Cherry! Das erklärte das Schweigen auf den Gängen.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Grace, und ihre Sorge um Cherry lag im Wettstreit mit ihrer Entrüstung, wer die Regeln verletzt und Matt informiert hatte. Vermutlich stammte es von Michael Lavender, der es wiederum von Dawn erfahren haben musste. Wunderbar!
Matt zuckte die Achseln, als könne er sich nicht daran erinnern, und das war in seinem Zustand auch durchaus möglich. Grace entschuldigte sich und ging über den Gang zu Kathys Büro.
Kathys Tür stand offen. Drinnen saß die Chefin an ihrem Schreibtisch und tippte etwas auf dem Computer. Ohne Zweifel war es ein Bericht.
»Kathy?«, fagte Grace leise.
Kathy blickte auf und sah sie mit kühlen, bürokratischen Augen an. Nie war sie konzentrierter und autoritärer, als wenn eine der Schwestern einen größeren Fehler beging.
»Wir hatten einen ereignisreichen Tag«, sagte sie. »Falls Sie das noch nicht gehört haben.«
»Ich habe es gehört«, antwortete Grace, die einen anklagenden Ton in Kathys Stimme vernommen hatte, denn Cherry galt als Grace’ Schützling. »Was genau ist denn passiert?«
Kathy tippte weiter, als könnte sie Grace’ Anblick nicht ertragen. »Was geschehen ist … nun, Schwester Bordeaux …« Kathy benutzte die altmodische Anrede ohne Ironie. »… hat Mr. Donahue ein Blutverdünnungsmittel verabreicht, und prompt ist bei ihm ein Aneurysma geplatzt. Unser erster fataler Fehler in zwei Jahren.«
»Meinen Sie, dass sie die Patientenkarte falsch gelesen hat?«
Kathy schüttelte den Kopf - nicht so sehr über die Frage als über die Ausrede, die sie vorher darüber gehört hatte. »Wir sind alle müde und überarbeitet«, sagt Kathy. »Ich bin seit dreißig Jahren müde und überarbeitet. Aber ich prüfe die Kartei immer doppelt und dreifach, ehe ich auch nur ein Aspirin verabreiche.«
Grace wusste, dass sie dazu besser schwieg. Kathy war davon überzeugt, dass die jungen Schwestern lange nicht so gut ausgebildet und gewissenhaft waren wie die ältere Generation.
»Jedenfalls«, fuhr Kathy fort, »waren Doktor Nash und Doktor Hirsch zufrieden, alles unter den Teppich zu kehren.«
»War es Ricks
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