Schicksalspfad Roman
dachte an Grace und ihre jahrelange Hingabe, trotz der langen Arbeitszeit, des schlechten Verhältnisses zwischen Schwestern- und Patientenzahl, der geringen Bezahlung und dem allgemeinen Mangel an Respekt im Vergleich zu den Ärzten.
Sie sagte: »Ich möchte gerne wieder hier anfangen. Aber ich kann nicht auf derselben Station arbeiten wie Rick. Entweder er geht oder ich.« Dann nahm sie die Karteikarte vom Schreibtisch und hielt sie hoch. »Das dürfte doch ausreichen, um alles zu regeln. Es ist nur die Frage, ob hier irgendjemand gewillt ist, dafür geradezustehen.«
»Ich werde es mit Dr. Hirsch besprechen. Denken Sie
daran, Cherry, dass ein Blatt Papier allein noch nicht ausreicht. Es könnte zu einer internen Anhörung kommen und möglicherweise zu einer Gerichtsverhandlung, falls Sie hier wirklich Erin Brockovich spielen wollen.«
Cherry kaute an ihrer Unterlippe. Sie wollte keine Heldin sein, sie wollte keine komplizierten Prozesse. Und sie wollte Rick nie wiedersehen.
»Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen«, sagte Kathy. »Weiß Dr. Nash, dass Sie diese Karte gefunden haben?«
»Ja, ich glaube schon. Er überlegt vermutlich gerade nervös, was ich damit anfange. Ich wäre nicht überrascht, wenn er im nächsten Moment hereinkäme.«
Kathy setzte sich die Brille auf. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Cherry. Sie gehen jetzt heim und denken über die Sache nach. Wenn Sie sich entschieden haben, kommen Sie morgen her, und wir regeln den Papierkram für Sie. Ich weiß, dass Sie Dr. Nash nicht begegnen wollen, aber wie ich schon sagte, es geht nicht um Dr. Nash. Es geht um die Patienten. Wie immer. Okay?«
Cherry nickte, aber sie hatte nicht die geringste Absicht zurückzukehren.
32
A ls Cherry zurück auf Turtle Island das Haus betrat, spürte sie sofort, dass jemand da war. Durch die Küche wehte eine kühle Brise, was bedeutete, dass die Verandatür offenstand. Nur ein Luftzug vom Wasser her Verandatür offenstand. Nur ein Luftzug vom Wasser her
brachte einen derart zum Frösteln. Das war merkwürdig, denn Joanne hasste Kälte. Vielleicht lüftete sie ja nur?
Cherry ging durch die Küche ins Wohnzimmer, dessen Rückwand aus hohen Fenstern und einer verglasten Holztür bestand, die auf die Veranda führte. Wie vermutet stand die Tür offen, und sie sah jemanden draußen in einem Liegestuhl. Angst durchfuhr sie, denn sie erkannte die Person von hinten als Grace: der schön geschwungene Hals, das rötliche hochgesteckte Haar, aber es war so unerwartet, dass Cherry glaubte, einen Geist zu sehen. Was machte Grace hier, zwei Wochen vor der erwarteten Rückkehr?
Langsam trat Cherry näher. Sie spürte, dass etwas Schlimmes geschehen war. Grace wirkte irgendwie starr und angespannt. Sie hatte sich in eine blaue Flanelldecke gewickelt und starrte auf die Bucht hinaus.
»Hi«, sagte Cherry leise, als sie hinaustrat.
Grace wandte den Kopf, und Cherry sah in ihren Zügen, dass tatsächlich etwas nicht stimmte. Aber sie wollte Grace nicht wissen lassen, dass sie dies erkannte, weil sie spürte, dass die andere in ihrer Zurückgezogenheit vermutlich erst darüber reden wollte, wenn sie dazu bereit war.
»Hi«, antwortete Grace. Ihr Gesicht hellte sich einen Moment lang auf, ehe sie schwach und freudlos, aber durchaus freundlich lächelte.
»Du bist früher zurückgekommen«, sagte Cherry so fröhlich wie möglich.
»Oh, sicher nicht zu früh«, antwortete Grace. Wieder lächelte sie, aber Cherry nahm ihr das nicht ab. »Wie geht es dir?«
»Alles in Ordnung«, erwiderte Cherry, die darauf brannte, zu erfahren, was sich in Texas abgespielt hatte (es war offensichtlich nichts Gutes), doch sie brannte noch mehr darauf, Grace alles zu erzählen, was in Ricks Wohnung passiert war. Plötzlich spürte sie eine große Freude in sich hochsteigen. Es war nicht nur Grace, die auf Cherry so beruhigend wirkte, deren Rat sie so schätzte, die Heimat für sie bedeutete. Sie merkte erst jetzt, dass ihr eine scheckliche Last vom Gewissen genommen worden war. Ihre Unschuld an Mr. Donahues Tod würde den armen Mann nicht wieder zurückbringen, aber es veränderte, wie Cherry sich selbst sah. Ihr war etwas zurückgegeben worden: ihr ganzes Leben. Fast war sie Rick dankbar, dass er so unvorsichtig gewesen war, sich erwischen zu lassen.
Und so erzählte sie Grace die gesamte Geschichte, auch ihre Unterhaltung mit Kathy.
Grace war froh, von ihrem eigenen Schmerz abgelenkt zu werden, und lauschte aufmerksam, während
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