Schieß, wenn du kannst Kommissar Morry
Hilfsinspektor die Zettel.
May spitzte beim Lesen die Lippen. Dann legte er die Blätter auf den Schreibtisch zurück.
„Was hat das zu bedeuten?"
„Sie traktieren mich immer nur mit Fragen", meinte Morry. „Warum, zum Teufel, finden Sie nicht mal zur Abwechslung selbst eine Antwort?"
„Niemand blamiert sich gern.“
„Dumme Fragen können auch höchst blamabel sein."
May nickte.
„Ich vermute", meinte der Kommissar, „daß sich Crane den Kombiwagen unseres Freundes Graham geliehen hat."
„Gestohlen, wollten Sie sagen, was?"
„Nein. Gerade diesen Ausdruck möchte ich vermeiden."
„Tja . . . und was halten Sie vom Verschwinden der Mrs. Graham?"
„Kümmern Sie sich um diese Sache, May. Ich möchte möglichst viel über diese Dame erfahren . . . Vorleben und so weiter. Morgen früh erwarte ich Ihren Bericht."
Morry, der weder seinen Hut noch seinen Mantel abgelegt hatte, ging zur Tür.
„Machen Sie jetzt Feierabend?" erkundigte sich May.
„Sie haben Humor, mein Lieber. Ich muß noch einen kleinen Besuch machen . . . bei den Grahams."
„Viel Vergnügen."
Als der Kommissar am Grundstücksportal des Handelsattaches eintraf, zögerte er einen Moment, auf die Klingel zu drücken. Schließlich ließ er die bereits erhobene Hand wieder fallen, weil er sah, daß das Tor nur angelehnt war. Er drückte es auf und ging hindurch. Weit im Hintergrund des alten Parks sah er die Lichter des weißen Hauses. Nur das Erdgeschoß war erleuchtet. Anscheinend handelte es sich um die Fenster der Bibliothek. Morry näherte sich dem Haus ohne besondere Eile. Leise ging er auf eines der Fenster zu, um einen Blick ins Innere werfen zu können.
Zunächst sah er niemand . . . aber dann entdeckte er eine sehr schöne, junge und attraktive Frau . . . fast noch ein Mädchen. . . in deren leuchtendrotem Haar sich das Licht des Kristallüsters fing.
Die junge Dame saß in einem Sessel und blätterte in einem Buch. Ihre klare, reine Stirn war gefurcht, und der Kommissar konnte sehen, daß sie in Gedanken weit weg war. War das Ann Graham? War sie überraschend zurückgekehrt?
Morry entfernte sich leise vom Fenster und ging zum Haustor. Er setzte den schweren Bronzeklopfer in Bewegung und lauschte dem dumpfen, nachhallenden Dröhnen. Es dauerte geraume Zeit, bis sich die Tür öffnete und der etwas erstaunt dreinblickende Howard in ihrem Rahmen sichtbar wurde.
„Herr Kommissar?"
„Das Gartentor stand offen", erklärte Morry freundlich. „Darf ich eintreten?"
Howard gab mit einer stummen Verbeugung den Weg frei.
Dann, nachdem er den Türflügel hinter Morry geschlossen hatte, erkundigte er sich:
„Ich vermute, Sie kommen wegen der gnädigen Frau?"
„Ist sie zurück?"
„Nein, Sir."
Howard ging voran und führte den Kommissar in den kleinen Salon. Er machte Licht und sagte: „Nehmen Sie doch bitte einen Augenblick Platz, Sir. Mr. Graham steht sofort zu Ihrer Verfügung.“
Morry nickte und setzte sich. Kurz darauf trat Graham ein. Er trug einen hellen Anzug und schien sich bester Laune zu erfreuen. Mit federnden, elastischen Schritten ging er rasch auf den Kommissar zu und drückte ihn mit beiden Händen in den Sessel zurück, als sich Morry zur Begrüßung erheben wollte.
„Bleiben Sie doch sitzen, lieber Kommissar! Um Himmels willen keine Umstände. Es ist reizend, daß Sie sich noch einmal persönlich nach hier bemüht haben."
„Das ist meine Pflicht, Mr. Graham. Sie verbindet sich leider sehr häufig mit recht unerfreulichen Anlässen. Wie ich höre, vermissen Sie Ihre Gattin?"
Graham winkte ab und setzte sich. „Das nehme ich nicht besonders tragisch", verkündete er. „Ann wird wiederkommen, das ist sicher. Ich habe es nur . . . wie sagt man doch? . . . der ,Ordnung halber' gemeldet."
„Ich verstehe nicht recht . . ."
„Lieber Kommissar, wir sprachen ja schon einmal anläßlich Ihres letzten Besuches darüber. Ich verhehlte dabei nicht die Eigenwilligkeit meiner Frau, und ich fand Gelegenheit, Ihnen zu sagen, daß ich diesen Umstand mit leicht übertriebener Toleranz zu billigen gelernt habe. Ann ist oft außer Haus, und mir ist bekannt, daß sie einem gelegentlichen Flirt nicht ablehnend gegenüber steht ... ja, daß sie harmlose Abenteuer dieser Art geradezu herausfordert. Sie braucht in einem fort Selbstbestätigung. Ich möchte wetten, daß man sie in allen vornehmeren Bars des Westends als gute Kundin kennt und schätzt . . . leider!"
Morry hörte mit höflicher Aufmerksamkeit zu. Seine
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