Schiffbruch Mit Tiger
sie sich ein solches Starren gefallen ließ.
Richard Parkers Schicksal bekümmerte mich. Unser Ende war nah.
Am nächsten Tag spürte ich ein Jucken in meinen eigenen Augen. Ich rieb und rieb, aber das Jucken ging nicht weg. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer, und anders als bei Richard Parker trat bei mir eine eitrige Flüssigkeit aus. Dann kam, so sehr ich die Augen auch zusammenkniff, die Dunkelheit. Zunächst war es nur ein schwarzer Punkt, direkt vor mir, immer genau in der Mitte. Daraus wurde ein Fleck, der wuchs, bis er mein ganzes Gesichtsfeld ausgefüllt hatte. Am nächsten Morgen sah ich von der Sonne nur noch einen schmalen Lichtstreif oben im linken Auge, wie ein winziges Fenster viel zu weit oben im Raum. Am Mittag war alles pechschwarz.
Ich klammerte mich ans Leben. Eine kraftlose Panik. Die Hitze war entsetzlich. Ich war so schwach geworden, dass ich nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Meine Lippen waren hart und schrundig. Der Mund war ausgetrocknet wie Pappe, überzogen mit einem zähflüssigen Speichel, der ebenso widerwärtig schmeckte wie er roch. Ich hatte Sonnenbrand am ganzen Körper. Jeder geschrumpfte Muskel tat mir weh. Meine Glieder, besonders die Füße, waren geschwollen und schmerzten ständig. Ich war hungrig, und wieder hatte ich nichts gefangen. Richard Parker brauchte so viel Wasser, dass ich meinen Anteil auf fünf Löffelvoll pro Tag beschränkte. Aber diese körperlichen Qualen waren nichts im Vergleich zu den seelischen, die jetzt erst begannen. Der Tag, an dem ich das Augenlicht verlor, war der erste Tag meiner neuen Leiden. An welchem Punkt unserer Seefahrt es geschah, könnte ich nicht sagen. Zeit spielte, wie gesagt, bald keine Rolle mehr. Irgendwann zwischen dem hundertsten und dem zweihundertsten Tag muss es gewesen sein. Und ich war sicher, dass jener Tag mein letzter sein würde.
Am nächsten Morgen hatte ich alle Furcht vor dem Tod überwunden, und ich beschloss zu sterben.
Ich kam zu dem traurigen Schluss, dass ich nicht mehr in der Lage war, für Richard Parker zu sorgen. Als Zoowärter hatte ich versagt. Dass er sterben sollte, machte mir mehr aus als mein eigener nahender Tod. Aber ich musste es einsehen, dass ich, mutlos und krank wie ich war, nichts mehr für ihn tun konnte.
Meine Kräfte nahmen rapide ab. Ich spürte, wie die Schwäche des Todes in mich hineinkroch. Den Nachmittag würde ich nicht überleben. Ich beschloss, dass ich mir den Abschied ein wenig leichter machen und wenigstens den quälenden Durst lindern würde, mit dem ich so lange gelebt hatte. Ich goss so viel Wasser in mich hinein, wie ich schlucken konnte. Hätte ich doch nur einen allerletzten Bissen zu essen gehabt. Aber das sollte wohl nicht sein. Ich lehnte mich an das zusammengerollte Ende der Plane. Ich schloss die Lider und wartete auf meinen letzten Seufzer. »Leb wohl, Richard Parker«, murmelte ich. »Verzeih mir, dass ich dich verlasse. Ich habe getan, was ich konnte. Behüt dich Gott. Vater, Mutter, Ravi, seid mir gegrüßt. Euer liebender Sohn und Bruder kehrt zu euch heim. Keine Stunde ist vergangen, in der ich nicht an euch gedacht hätte. Der Augenblick, in dem ich euch wiedersehe, wird der glücklichste meines Lebens sein. Und nun lege ich alles in die Hände Gottes, der Liebe ist und den ich liebe.«
Ich hörte eine Stimme sagen: »Ist da jemand?«
Es ist erstaunlich, was man alles hört, allein in der Finsternis eines sterbenden Verstands. Ein Geräusch ohne Form oder Farbe hört sich merkwürdig an. Blinde hören anders als Sehende.
Die Stimme fragte noch einmal: »Ist da jemand?«
Ich kam zu dem Schluss, dass ich den Verstand verloren hatte. Traurig, aber es konnte nicht anders sein. Das Elend wünscht sich einen Gefährten, und der Wahnsinn ruft ihn herbei.
»Ist da jemand?«, fragte die Stimme zum dritten Mal, nun schon strenger.
Verblüffend, wie klar mein Verstand im Delirium war. Die Stimme hatte ein ganz eigenes Timbre, einen schweren, müden, schleppenden Klang. Ich ging auf sie ein.
»Natürlich ist da jemand.
Jemand
ist immer da. Woher sollte denn sonst die Frage kommen?«
»Ich hatte gehofft, dass da vielleicht
noch
jemand ist.«
»Was soll das heißen, noch jemand? Begreifst du eigentlich, wo du hier bist? Wenn dir diese Frucht deiner Phantasie nicht schmeckt, dann pflück dir eben eine andere. Die sind hier so reichlich wie dein Entbehren.«
Hmmm.
Ent
behren?
Erd
beeren. Das wäre jetzt genau das Richtige.
»Da ist also
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