Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
Vom Netzwerk:
lehnte mich vor. Mit beiden Händen packte ich die Dose und schlug sie mit aller Wucht gegen einen Haken. Immerhin eine Delle. Ich schlug noch einmal zu. Eine zweite Delle, gleich neben der ersten. Delle um Delle zermürbte ich die Dose. Ein Wassertropfen erschien. Ich leckte ihn ab. Ich drehte die Dose und hieb nun auf die andere Seite ein, um ein zweites Loch zu schaffen. Ich schlug zu wie ein Besessener. Das zweite Loch war größer. Ich setzte mich auf die Kante. Ich hielt die Dose in die Höhe. Ich öffnete den Mund. Ich neigte die Dose.
    Meine Gefühle mag man sich ausmalen, aber beschreiben könnte ich sie nicht. Gurgelnd hob sich meine gierige Kehle, und das reine, klare, köstliche, glitzernde Nass rann in meine Eingeweide. Flüssiges Leben, nichts anderes. Ich leerte den goldenen Becher bis zum letzten Tropfen, saugte an dem Loch, damit nicht einmal die feuchte Luft verloren ging. »Aaaaah«, stöhnte ich, warf die Dose über Bord und holte mir eine neue. Ich öffnete sie nach der gleichen Methode wie die erste, und ihr Inhalt war ebenso schnell verschwunden. Auch diese Dose segelte über Bord, und ich schlug die nächste auf. Ich trank vier Dosen, zwei Liter von jenem göttlichen Nektar, dann hatte ich genug. Man fragt sich vielleicht, ob ein solch gieriges Trinken nach so langem Entbehren nicht schädlich für den Körper ist. Unsinn! Nie im Leben hatte ich mich besser gefühlt. Man brauchte ja nur meine Stirn zu berühren! Mein Schädel war feucht vom schönsten, klarsten, kühlendsten Schweiß. Alles an mir bis hin zu den Poren meines Körpers jubilierte vor Glück.
    Nicht lange, und ein Wohlbehagen stellte sich ein. Mein Mund wurde wieder feucht und weich. Meinen Hals spürte ich gar nicht mehr. Meine Haut entspannte sich. Meine Gelenke bewegten sich wieder mühelos. Mein Herz schlug in einem fröhlicheren Rhythmus, und das Blut zirkulierte in meinen Adern wie die Wagen einer Hochzeitsgesellschaft, die hupend durch die Stadt ziehen. Die Muskeln fühlten sich wieder kräftiger und geschmeidiger an. Der Kopf wurde klarer. Ich war ein Toter, der wieder zum Leben erwachte. Es war ein wunderbares, wunderbares Gefühl. Wer sich an Alkohol berauscht, der soll sich schämen, aber der Wasserrausch ist die schönste aller Extasen. Minutenlang saß ich einfach nur da und genoss dieses Glück.
    Eine gewisse Leere machte sich bemerkbar. Ich befühlte meinen Bauch. Er war hart und nach innen gewölbt. Zeit, etwas zu essen. Ein Masala Dosai mit Kokosnusschutney-mmmmmm! Oder besser noch: Oothappam! MMMMMM ! Oh! Ich hielt mir beide Hände vor den Mund - IDLI ! Schon das bloße Wort versetzte mir einen Stich in die Kaumuskeln, und ganze Sturzbäche von Wasser liefen mir im Munde zusammen. Meine rechte Hand zuckte. Ich musste mich zusammennehmen, sonst hätte ich sie tatsächlich nach den köstlichen Reisbällchen ausgestreckt, die ich in meiner Phantasie sah. In Gedanken nahm ich die dampfende Kugel ... tunkte sie in Soße ... steckte sie mir in den Mund ... kaute ... oh, welch wunderbare Qual!
    Ich schaute nach, was im Stauraum an Essbarem zu finden war. Es gab Päckchen mit Notrationen, Seven
Oceans Standard Emergency Ration
aus dem fernen, exotischen Bergen in Norwegen. Das Frühstück, das mir neun versäumte Mahlzeiten ersetzen sollte, ganz zu schweigen von den Leckerbissen, die mir Mutter sonst noch zugesteckt hätte, kam in Gestalt eines Halbkiloblocks, schwer, massiv, vakuumverpackt in silberne Plastikfolie mit Anweisungen in zwölf Sprachen. Die Aufschrift besagte, dass die Packung achtzehn angereicherte Schiffszwiebacke enthielt, bestehend aus Weizenmehl,
tierischen Fetten
und Glukose, und dass man nicht mehr als sechs davon in einem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden verzehren solle. Das mit dem Fett war Pech, aber unter den gegebenen Umständen musste der Vegetarier in mir sich einfach die Nase zuhalten und sich mit dem abfinden, was zu haben war.
    Oben fand ich die Aufschrift
Hier aufreißen
und einen schwarzen Pfeil, der die Richtung wies. Die Kante der Verpackung öffnete sich unter meinen Fingern. Neun in Wachspapier eingeschlagene längliche Plättchen kamen zum Vorschein. Ich packte eines aus. Es hatte eine Rille, an der es sich in zwei Hälften brechen ließ. Zwei fast quadratische Zwiebacke, gelblich und wohlriechend. Ich biss einen an. Donnerwetter, wer hätte das gedacht? Ich hatte ja keine Ahnung. Es war ein Geheimnis, das man mir mein Leben lang vorenthalten hatte: Die norwegische Küche war die

Weitere Kostenlose Bücher