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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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kein Tiger. Es war eine Schwimmweste. Mehrere solcher Westen lagen am Hinterende von Richard Parkers Höhle.
    Ein Schauder überlief mich. Zwischen den Schwimmwesten konnte ich wie durch die Blätter eines Baums meinen ersten eindeutigen, unmissverständlichen Blick auf Richard Parker werfen. Ich sah seine Hinterbacken und ein Stück von seinem Rücken. Gelbbraun und gestreift und unglaublich groß. Er lag mit dem Kopf zum Heck, flach auf dem Bauch. Er lag unbewegt, nur die Flanken hoben und senkten sich. Ich kniepte mit den Augen, als wolle ich es nicht glauben, wie nahe er war. Aber da lag er, einen halben Meter unter mir. Wenn ich mich gereckt hätte, hätte ich ihm in den Po kneifen können. Und zwischen uns nichts als eine dünne Plane, die nicht das geringste Hindernis für ihn war.
    »Der Herr stehe mir bei!« Kein Gebet wurde je inbrünstiger gesprochen und doch leiser gehaucht. Ich lag regungslos.
    Ich brauchte das Wasser. Ich langte hinunter und zog leise den Riegel zurück. Ich klappte den Deckel auf. Darunter war ein Stauraum.
    Ich habe vorhin von Kleinigkeiten gesprochen, die plötzlich lebenswichtig werden. Hier war eine davon: Das Scharnier des Deckels lag vielleicht zwei Zentimeter von der Kante der Bugbank, zur Bootsmitte hin - das heißt, wenn ich ihn aufklappte, bildete er eine Barriere, die jene dreißig Zentimeter abschloss, die zwischen Plane und Bank offen waren und durch die Richard Parker kommen konnte, wenn er die Schwimmwesten beiseite geschoben hatte. Der vorgeklappte Deckel wurde von dem Ruder gehalten, das ich oben quer auf die Plane gelegt hatte. Ich kroch nach vorn, den Blick zum Boot gewandt, den einen Fuß auf der Kante des Stauraums, den anderen gegen den Deckel gedrückt. Wenn Richard Parker mich unter Deck angreifen wollte, musste er sich gegen diesen Deckel stemmen. Das würde mich warnen und mir sogar den entscheidenden Stoß geben, um mich mit meinem Ring rücklings ins Meer zu retten. Wenn er den anderen möglichen Angriffsweg wählte, von oben über die Plane, auf die er vom Heck aus kletterte, würde ich ihn früh genug sehen und ebenfalls ins Wasser springen. Ich sah mich um. Kein Hai ließ sich blicken.
    Nun konnte ich nachsehen, was sich in dem Versteck befand. Mir schwanden fast die Sinne vor Glück. Unter der Klappe glitzerten die wunderbarsten fabrikneuen Sachen. Industriegüter, was war das für eine Pracht, von Menschenhand geschaffen, von Maschinen produziert! Der Augenblick, in dem diese Reichtümer sich mir offenbarten, war ein Augenblick des Glücks - eine betörende Mischung aus Hoffnung, Überraschung, Unglauben, Aufregung und Dankbarkeit, alles in einem -, wie ich ihn in meinem ganzen Leben, ob Weihnachten, Geburtstag, Hochzeit, Diwali oder was es sonst noch an Geschenkgelegenheiten gab, noch nicht erlebt hatte. Mir schwindelte geradezu vor Glück.
    Sogleich erblickte ich, wonach ich suchte. Ob in Flasche, Dose oder Karton, abgepacktes Wasser erkennt man sofort. Auf diesem Rettungsboot wurde das Elixier des Lebens in hellgoldenen Dosen serviert, die sich perfekt in der Hand hielten.
Trinkwasser,
versprach das Etikett, wie kein Grand Cru es besser hätte versprechen können, in schwarzen Lettern. HP
Foods Ltd.
war das Chateau.
500 ml
wurden ausgeschenkt. Und von diesen Dosen gab es reihenweise, zu viele, um sie mit einem Blick zu zählen.
    Bebend fasste ich hinunter und nahm eine davon in die Hand. Sie war kühl und von einigem Gewicht. Ich schüttelte sie. Die Luftblase im Inneren antwortete mit einem dumpfen
gluck-gluck-gluck
. Der Augenblick war nahe, da ich von meinem höllischen Durst erlöst werden sollte. Mein Puls raste beim Gedanken daran. Ich musste nur noch die Dose öffnen.
    Ich hielt inne. Wie sollte ich das anstellen?
    Wenn Dosen an Bord waren, musste es doch auch einen Dosenöffner geben? Ich suchte den Vorratsraum ab. Alles Mögliche war darin. Ich schob ein paar Sachen beiseite. Ich verlor die Geduld. Schließlich hatte die Vorfreude eine ungeheure Spannung aufgebaut. Ich musste trinken, und zwar
jetzt-
sonst würde ich sterben. Das Werkzeug, das ich brauchte, war nirgends zu entdecken. Aber für nutzlosen Kummer hatte ich keine Zeit. Es mussten Taten folgen. War es wohl möglich, sie mit den Fingernägeln aufzudrücken? Ich versuchte es. Nein. Die Zähne? Das brauchte ich gar nicht erst zu probieren. Ich sah den Bootsrand an. Die Haken, an denen die Plane festgeknüpft gewesen war. Kurz, kräftig, stabil. Ich kniete mich auf die Bank und

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