Schiffsdiebe
Hinter ihnen donnerte eine Kanone, und ein Geschoss zischte über sie hinweg.
» Die haben Angst, wir könnten in den Dschungel fliehen.«
Nailer wandte sich um. » Werden sie uns versenken?«
» Die Pole Star ist nicht dein Problem!« Der Kapitän packte ihn an der Schulter und deutete nach vorn. » Dein Problem ist da draußen! Zeig mir, wohin wir steuern müssen!«
Nailer beugte sich über die Monitore und ließ den Blick über das Ufer schweifen. Schließlich entdeckte er die Insel. Er runzelte die Stirn. Nein. Irgendetwas passte da nicht. Das war ein anderer Hügel. Im Regen und in der Finsternis sah alles anders aus. Das Schiff wälzte sich durch die Wellen. » Ich kann nichts erkennen«, sagte er. Er versuchte durch die Scheibe zu blicken, über die der Regen sich ergoss.
» Dann streng dich an!« Die Finger des Kapitäns gruben sich ihm in die Schultern.
Nailer starrte in die Finsternis hinaus. Es war unmöglich. Das Land auf den Monitoren bestand aus nichts als Büschen und Bäumen und einem Küstenstreifen. Er kniff die Augen zusammen und wandte sich wieder der Windschutzscheibe zu. Erneut blitzte es. Und noch einmal. Dann grollte lauter Donner. Er sah die Insel und stieß ein Keuchen aus. Sie waren schon zu weit!
» Da drüben!« Er deutete. » Wir sind daran vorbei!«
Der Kapitän fluchte, riss das Steuerrad herum und schrie seiner Mannschaft Befehle zu. Das Segel knallte und flatterte nutzlos im Wind. Das Schiff wurde hin- und hergeworfen. Der schattenhafte Umriss eines Menschen stürzte von einem Mast und verfing sich in einem Trapez. Der Segelbaum schwang über das Deck. Die Dauntless legte sich auf die Seite. Plötzlich ragte der gewaltige Rumpf der Pole Star über ihnen auf. Die Dauntless kam nicht von der Stelle. Unten auf dem Deck hörte Nailer Reynolds » Achtung« schreien, als sie die Mannschaft darauf vorbereitete, dass das Schiff auf Grund laufen würde. » Alle Mann an die Pumpen!«
Die Pole Star hatte sie eingeholt. Nailer sah Halbmenschen mit Enterhaken sprungbereit auf dem Schandeck stehen. Da blähten sich die Segel der Dauntless plötzlich wieder. Die Pole Star versuchte beizudrehen, aber die Dauntless machte einen Satz nach vorne.
» Rechts!«, schrie Nailer. » Nach rechts!« Er konnte die Insel sehen. Sie befanden sich bereits über den Zähnen. Gleich hatten sie die größeren erreicht. Dann hätten sie keine Chance mehr.
» Bei uns heißt das steuerbord«, erwiderte Candless trocken und riss das Rad herum. Auf einmal wirkte er außerordentlich gelassen. Die Dauntless nahm wieder Fahrt auf, von den Wellen auf die Ausläufer der Insel zugetrieben. Und dann wurden sie vom Sog des Wassers durch die Untiefen gezogen, vorbei an der Insel und den Zähnen.
Das Schiff geriet in das relativ ruhige Fahrwasser der Bucht.
» Sturmanker!«, brüllte Kapitän Candless, während die Mannschaft die Segel einholte. Die Dauntless erbebte kurz und wurde dann von den Ankern auf der Stelle gehalten. Wellen brandeten gegen das plötzlich reglose Schiff.
Nailer stieg vom Kommandodeck hinunter und trat in den peitschenden Regen hinaus.
» Macht die Boote fertig!«, rief Reynolds. » Bereit machen zum Entern!«
Blitze zuckten herab. Die Pole Star kam auf sie zugeglitten. Nailer klammerte sich an die Reling. » Bei den Parzen«, flüsterte er und fasste sich an die Stirn. Er hatte sich nie für einen religiösen Menschen gehalten, aber jetzt fing er an zu beten.
Reynolds stellte sich neben ihn und blickte dem Kriegsschiff entgegen. » Jetzt werden wir sehen, ob du recht hast, mein Junge.«
Nailer hatte einen staubtrockenen Hals. Die Pole Star schoss heran, als hätte sie vor, das gegnerische Schiff zu rammen. Nailer kam plötzlich ein fürchterlicher Gedanke: In dem Sturm lagen die Zähne wahrscheinlich viel tiefer unter Wasser. Verzweiflung drohte ihn zu überwältigen. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Kein Wunder, dass die Dauntless unbeschadet davongekommen war.
Die Pole Star reffte ebenfalls die Segel und wurde langsamer. Ganz offensichtlich wollte sie beidrehen und die Dauntless entern. Nailer blickte ihr voller Verzweiflung entgegen. Er hatte sich geirrt. Er hatte sich für so verdammt schlau gehalten, und jetzt saßen sie in der Falle, nur weil er nicht an alle Einzelheiten gedacht hatte.
» Käpt’n!«, rief Nailer. » Sie sind nicht …«
Plötzlich bewegte sich die Pole Star nicht mehr weiter. Sie hing reglos auf dem Wasser, als würde sie von irgendetwas festgehalten.
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