Schilf im Sommerwind
Meeresbiologe. Ich liege ständig im Wettstreit mit meinem Bruder – er ist ebenfalls Ozeanograph, aber einer von der Sorte Geologe-Geophysiker. Joe behauptet, Wale zu studieren sei etwas für Langweiler, das Sedimentgestein wäre das A und O.«
»Ich erinnere mich, dass du von deinem Bruder erzählt hast.« Dana sah ihn wieder vor sich, den kleinen Jungen, der auf der Kaimauer gespielt, Krebse gefangen, sie ins Wasser zurückgeworfen und seinen Bruder vermisst hatte, der zur See fuhr. Ihr Herz war schwer, sie vermisste ihre Schwester, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Er ist verheiratet, mit einem Mädchen aus Black Hall.« Sams Blick wurde ernst, als er ihren veränderten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Aha«. Sie wischte sich verstohlen über die Augen.
»Ich unterrichte inzwischen in New Haven. In Yale«, fügte er hinzu, mit einem Achselzucken, als hätte man ihn soeben beim Angeben ertappt. »Joe und Caroline haben vor zwei Jahren geheiratet und sind ständig unterwegs, aber wir sehen uns jedes Mal, wenn sie sich in Firefly Beach aufhalten. Es ist unbeschreiblich.« Lachend konzentrierte er sich auf ihre Augen. »Aber wozu erzähle ich dir das alles? Du weißt ja, wie das ist.«
»Ich?« Sie dachte, er spiele auf seinen Bruder an. Und ›Caroline‹ musste Caroline Renwick sein, die Tochter von Hugh Renwick, der auf Firefly Beach gewohnt hatte und eine Legende in der Kunstwelt war.
»Ich meine, was für ein unbeschreibliches Gefühl es ist, nach Hause zu kommen und deine Schwester wiederzusehen.«
»Oh, ja.«
»Ihr beide wart immer ein Herz und eine Seele. Man bekam euch nur im Doppelpack – wurde nicht nur von einer, sondern von beiden Underhill-Schwestern unterrichtet. Ist sie heute Abend hier?«
Dana antwortete nicht. Die Gedanken an Hugh Renwick verflüchtigten sich. Nun hatte sie das Doppelpack vor Augen: Dana und Lily im Crashboot, Segeltraining mit den Kursteilnehmern, das Gefühl des Sommerwinds auf der Haut, die Auswahl der Hafenszenen, die sie malte wollten.
»Du bist doch sicher nach Hause gekommen, um die Mädchen und sie zu sehen?«, fragte Sam hartnäckig.
»Ich bin nach Hause gekommen, um die Mädchen zu sehen.«
Sein Gesicht hatte einen fragenden Ausdruck. Er neigte den Kopf zur Seite und schob die Brille hoch. Seine Augen blinzelten. Dana nahm den Duft der Wildblumen wahr, die er ihr mitgebracht hatte, und dachte an den Strandhafer, der angefüllt war mit rosa Rugosa-Wildrosen, Kornblumen, Wilden Möhren und Taglilien. Sie merkte, dass Sam nicht wusste, was er darauf antworten sollte, deshalb kam sie ihm zur Hilfe.
»Ihre Töchter. Sie sind meine Mündel.« Das Wort klang lachhaft, so steif und formell.
Meine Lieben, meine bezaubernden Nichten, die hübschen Töchter meiner Schwester
hätte natürlicher geklungen. »Meine Mündel«, sagte sie noch einmal.
»Aber ich verstehe nicht …«
»Es gab eine entsprechende Verfügung in ihrem letzten Willen. Dass ich die Kinder in meine Obhut nehmen sollte, für den Fall, dass Mark und ihr jemals etwas passiert.«
»In ihrem letzten Willen«, sagte Sam langsam.
»Ich sollte nach Hause kommen, von wo auch immer, und mich um sie kümmern. Ich war in Frankreich. Versuchte zu malen und mein Leben zu leben. Natürlich kam ich zur Beerdigung. Aber meine Mutter schien zu dem Zeitpunkt alles unter Kontrolle zu haben, betreute die Mädchen …«
»Was ist passiert, Dana?«
»Sie sind ertrunken. Lily und Mark.« Dana verspürte ein Engegefühl in der Brust, wie immer, wenn sie die Worte aussprach. Aber sie atmete tief durch, starrte in den herrlichen Himmel und schaffte es irgendwie, die Tränen zurückzudrängen. Die Fassade aufrechtzuerhalten fiel ihr zunehmend leichter. Was sie tief in ihrem Inneren empfand, stand auf einem anderen Blatt.
»Oh, Lily!«, sagte Sam.
Als Dana ihren Blick Sam Trevor zuwandte, entdeckte sie überrascht, dass er Tränen in den Augen hatte. Es war, als ob sich ihre eigenen, im Herzen verschlossenen Gefühle auf dem Gesicht dieses Mannes spiegelten, der beinahe ein Fremder war.
»Es tut mir so Leid!«
»Danke.« Dana betrachtete wieder angestrengt den Himmel, den spitzen weißen Kirchturm, der das blau-goldene Dämmerlicht durchbohrte. Am anderen Ende der Straße waren die Besucher der Galerie ins Freie getreten, um Ausschau nach ihr zu halten. Sie fühlte sich benommen. »Sie starb vor zehn Monaten.«
»Und nun bist du nach Hause gekommen, um ihre Töchter großzuziehen?«
Dana schüttelte den
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