Schilf im Sommerwind
McCrays – in dem die alte Annabelle mit ihren Töchtern wohnte, früher die besten Freundinnen der Underhill-Schwestern – zum Leben, und Stimmen drangen durch die geöffneten Fenster zu ihnen herüber.
»Ich finde doch.« Allies Miene war sorgenvoll. »Die Kletterrosen machen sich überall breit, ersticken alles. Man sieht nicht einmal mehr Moms Kräutergarten. Sie hat Lavendel, Rosmarin, Salbei und Thymian angepflanzt, die eigentlich jedes Jahr wiederkommen sollten. Ich kann keine Spur von ihnen entdecken.«
Dana stellte ihre Tasse ab und begann, die abgestorbenen Blätter und Ranken der wilden Rosen zu entfernen. Sie legte ein Büschel Salbei frei, weich und grün; als sie tiefer grub, stieß sie auf einen strohigen silbrigen Thymianstrauch, an dem winzige dreieckige Blätter sprossen. Sie stach sich an einer Dorne in den Finger und leckte den Blutstropfen ab. Durch die geöffneten Fenster des Hauses hörte sie den Fernseher plärren, irgendeine Morgensendung war eingeschaltet. Statt mit Dana und Allie nach draußen zu gehen, war Quinn drinnen geblieben, um fernzusehen.
»Sieht Quinn oft mit Grandma fern?«, fragte Dana.
»Nicht immer.« Allie hockte sich neben Dana und zupfte Unkraut. »Aber manchmal.«
»Sie will nicht mit mir reden, stimmt’s?«
Allie nickte.
Dana kaute an ihrer Lippe. Quinn war immer willensstark und hartnäckig gewesen, wenn es um Dinge ging, die ihr wichtig waren, aber sie hatte ihr nie zuvor so lange die kalte Schulter gezeigt. Beim Jäten des Unkrauts im Garten betastete Dana die Erde mit ihren Fingern. Sie war steinig, mit Granitsplittern durchsetzt, typisch für Hubbard’s Point. Das Erdreich war hier anders als sonst wo auf der Welt, und die Berührung hatte zur Folge, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war.
Ihre Beziehung zu Hubbard’s Point war alles andere als unkompliziert, insbesondere jetzt. Zum einen war der Ort mehr für sie als irgendein Fleckchen Erde. Sie liebte ihn ähnlich wie einen Menschen, und die Gefühle, die sie für ihn hegte, waren gleichermaßen vielschichtig. Hier fand sie wieder zu sich selbst. Es war der einzige Ort auf Erden, wo sie sich nicht vor den Wahrheiten in ihrem tiefsten Innern verstecken konnte. Und jede Handbreit Boden erinnerte sie an Lily. Sie empfand den Verlust ihrer Schwester hier schmerzlicher als anderswo, und alles andere verblasste im Vergleich dazu.
»Eure Mutter würde nicht wollen, dass Quinn mir aus dem Weg geht.«
»Das weiß Quinn.«
»Hat es damit zu tun, dass ich ein ganzes Jahr lang nicht da war? Dass ich nach der Einäscherung gleich wieder abgereist bin?« Wenn es sein musste, konnte Dana eine Erklärung für ihr Verhalten abgeben.
»Das fand sie nicht gut, aber das ist nicht der Grund.«
»Warum will sie dann nicht mit mir reden?«
Allies Gesicht war heiter. »Weil du uns mitnehmen willst, wenn du nach Frankreich zurückkehrst. Und sie will nicht mit.«
Alle dachten, Quinn sähe sich
Meet the Press
mit Grandma an, sogar Grandma. Auf dem Sofa liegend, in eine bunte Flickendecke gehüllt, hatte sich Quinn einfach zu Boden fallen lassen und Kissen unter die Decke gestopft, während Grandma den Blick unverwandt auf den Bildschirm richtete. Dann war sie auf leisen Sohlen nach oben geschlichen, durch das Fenster in ihrem Zimmer gestiegen und die Eiche hinabgeklettert, die unmittelbar neben dem Haus wuchs.
Geheimhaltung war oberstes Gebot. Sie hatte einen Filzschreiber in den Bund ihrer Shorts gesteckt. Sobald sie auf dem Boden gelandet war, klemmte sie sich den Filzstift zwischen die Zähne, genau wie ein Pirat seinen Dolch. Dann lief sie den schmalen steinigen Pfad entlang zu der Treppe, die in den Felsen gehauen war und an den Strand führte.
Quinn rannte, als gelte es ihr Leben, über den schmalen Steg, an das andere Ufer des zeitweilig ausgetrockneten Flussbetts, durch den weichen Sand. Sie biss auf den Filzstift, stürmte vorwärts wie ein wilder Pequot. Die Angehörigen dieses Indianerstamms aus den bewaldeten Gebieten an der Ostküste hatten vor einigen hundert Jahren diese Landschaft durchstreift. Sie waren Jäger und Fischer, brieten ihre Beute über einer offenen Feuerstelle unterhalb der Findlingsblöcke in Mrs. Fitzgeralds Garten.
Quinn wusste viel über die Indianer. Zum einen lautete ihr voller Name Aquinnah, ein Wort aus der Sprache der Wampanoag, was so viel wie ›hohes Land‹ bedeutete. Ihre Eltern hatten ihr diesen Namen gegeben, weil sie sich auf einem Berg kennen gelernt und ineinander
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