Schilf im Sommerwind
Kopf. »Nein, um sie mit nach Frankreich zu nehmen.«
»Oh.«
Die Leute hatten sie entdeckt. Dana hörte ihren Namen. Die Stimmen waren lauter, riefen sie in die Galerie zurück. Ein Kuchen sollte angeschnitten werden. Jemand wollte einen Trinkspruch ausbringen. Das Fest wurde zu Ehren ihrer Heimkehr gegeben, auch wenn sie nur kurze Zeit blieb. Sie war eine Malerin aus Black Hall, und ihre Schwester hatte dafür gesorgt, dass alle Welt Notiz davon nahm.
Der Abendstern war aufgegangen. Er leuchtete im Westen und riss ein winziges Loch in das bernsteinfarbene Himmelsgewebe. Dana suchte Lily überall: in einer Wiese voller Wildblumen, in einer Tasse Tee, am Firmament. Blinzelnd betrachtete sie den hellen Stern und wünschte sich etwas. Sie schloss die Augen, dachte an ihre Schwester. Sie sah Lilys Augen, ihre goldblonden Haare und ihr strahlendes Lächeln. Wenn sie die Hand ausstreckte, hatte sie das Gefühl, sie berühren zu können …
Sam stand reglos da. Er blieb stumm und versuchte nicht, sie zu stützen, obwohl sie spürte, dass sie schwankte. Sie befand sich im Bann ihrer Schwester, im Zentrum der Stadt, versuchte, den Kontakt zum Abendstern herzustellen. Lily schien so nahe zu sein. Sie war dort oben, am Firmament. Mit geschlossenen Augen spürte Dana Lilys Anwesenheit, und ihr war, als wäre sie nie von ihnen gegangen.
Doch als sie die Augen öffnete, war sie mit Sam alleine. Der Galeriebesitzer und ihre Mutter riefen sie. Den Wildblumenstrauß in der Hand, drehte sich Dana um, und gemeinsam mit dem Mann, den sie als Jungen gekannt hatte, ging sie langsam an der weißen Kirche vorbei zur Kunstgalerie und den wartenden Gästen.
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2
H ubbard’s Point hatte sich in Dana Underhills einundvierzig Lebensjahren kaum verändert. Im südlichen Teil von Black Hall gelegen, ragte es als klippenreiche Landzunge in den Long Island Sound hinein. Im Sommer war es ein Urlaubsdomizil für die arbeitende Bevölkerung: ihm fehlte der Glanz und die Grandezza gewisser mondäner Badeorte an der Ostküste. Die Gärten waren nicht größer als ein Handtuch, die Cottages machten sich gegenseitig den Platz streitig. Die ursprünglichen Erbauer – Groß- und Urgroßeltern der heutigen Hausbesitzer – waren Polizisten, Feuerwehrmänner, Kaufleute, Handelsvertreter, Streckenarbeiter der Telefongesellschaft und Lehrer gewesen.
Was Hubbard’s Point an Noblesse fehlte, machte es an natürlicher Schönheit und menschlicher Wärme mehr als wett. Hier kannte jeder jeden. Die Bewohner grüßten sich, wenn sie sich zu Fuß oder im Auto begegneten, sie hatten ein Auge auf die Kinder der Nachbarn. Die Kinder, mit denen Dana aufgewachsen war, hatten inzwischen selber Nachwuchs. In den Gärten blühte es prachtvoll und üppig, in den Blumenkästen vor den Fenstern explodierten die Farben. Der schwere Duft der Geißblattgewächse lag in der Luft, und Sandarak-Bäume bedeckten die eingezäunten Grundstücke mit ihren weichen Nadeln. In den Hügeln lebten Kaninchen, und Eichhörnchen nisteten in den Bäumen.
Die Häuser an der Ostseite von Hubbard’s Point waren auf den Klippen errichtet, großen, mit Grasbüscheln verzierten Granit- und Quarzblöcken, die zu kleinen felsigen Buchten und den bei Ebbe zurückbleibenden Wassertümpeln abfielen. Die Häuser auf der Westseite boten einen Ausblick auf den Strand und die sumpfige Niederung – ein weißes, sichelförmiges Gestade, das sich den Sund entlangwand, mit goldgrünen Marschen im Hintergrund.
Vom Haus der Underhills, das sich auf der höchsten Stelle von Hubbard’s Point erhob, konnte man sowohl den Strand als auch die Klippen sehen. Das schindelgedeckte Cottage, 1939 von Marthas Eltern erbaut, hatte dem furchtbaren Hurrikane in jenem Jahr und zahlreichen nachfolgenden Stürmen getrotzt. Grau verwittert, verschmolz es in seiner Unauffälligkeit harmonisch mit der Felsbank, schmiegte sich zwischen Riesen-Lebensbäume und vom Wind verkrüppelte Eichen, einzig durch die wuchernden Rosen und winterharten Pflanzen in Lilys Garten aufgehellt.
»Ziemlich viel Unkraut, oder?«, sagte Allie, die Danas Mienenspiel beobachtete.
»Ach, so schlimm ist es auch wieder nicht.« Dana trank einen Schluck Kaffee. Am Sonntagmorgen nach der Ausstellung saßen sie auf den Steinstufen, im Schatten eines Sassafrasbaums. Die Leute nebenan bereiteten gerade ein opulentes Frühstück zu, und der Duft des brutzelnden Specks lag in der Luft. Auf der anderen Straßenseite erwachte das Haus der
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