Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
nach Abzug der Flut am Strand bildeten, ließ die imposanten Herrenhäuser der Schiffsbauer und die Kirchen in neuem Glanz erstrahlen und setzte sich bis zum Connecticut River fort, in den Long Island Sound hinein. Genau wie Honfleur als Wiege des Impressionismus galt, war Black Hall der Ort, an dem diese Kunstrichtung in Amerika ihren Ausgang genommen hatte, und als Malerin verstand Dana, warum.
    »He!«, rief eine Stimme.
    Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der junge Mann ihr folgte, die Blumen noch in der Hand. Sie hatte richtig getippt, er war vermutlich nicht älter als achtundzwanzig oder neunundzwanzig.
    »Wohin so schnell?«, sagte er, als er sie eingeholt hatte.
    »Ich suche jemanden.«
    Er lachte. »Sie sind garantiert schon wieder zurück, bei der Vernissage. Alle sind gekommen, um Sie zu sehen.«
    Sie ging unbeirrt weiter. Die Luft war frisch und kühl. Der Wind wehte durch die Bäume, bewog Dana, ihren Schal enger zu ziehen. Sie trug ein weißes, eng anliegendes Seidenkleid und dazu ein schwarzes Schultertuch aus Kaschmir. Ihre Ohrringe und das Halsband bestanden aus silbernen Lilien, die sie an ihre Schwester erinnerten. Sie legte den Schmuck immer dann an, wenn sie nervös oder bedrückt war. Unlängst hatte sie ihn als Trost für ihr gebrochenes Herz getragen.
    »Sind die Mädchen verschwunden?«
    »Wie bitte?«
    »Suchen Sie die beiden Mädchen, Ihre Nichten, Lilys Töchter?«
    »Woher wissen Sie das?« Sie blieb stehen, und ihr Herz begann zu pochen.
    »Ich habe sie vorbeigehen sehen. Sie haben große Ähnlichkeit mit Lily und Ihnen.«
    »Sie kennen Lily?«
    »Ich kannte sie, früher«, korrigierte der junge Mann Dana, und wieder spürte sie, wie ihr Herz hämmerte. »Sie wissen nicht, wer ich bin, oder? Ich dachte, Sie hätten mich auf Anhieb wiedererkannt; so kann man sich täuschen.«
    Sie errötete. Hoffentlich erriet er nicht, dass ihr erster Gedanke darin bestanden hatte, was für ein Prachtstück von einem Mann er war. »Sagen Sie –« Danas Mund war trocken – »woher kennen Sie Lily?«
    »Ihre Schwester und Sie haben mir Segeln beigebracht«, sagte er und reichte ihr die Blumen. »Ist schon eine Weile her. In Newport.«
    Sie löste den Blick von dem Strauß und sah in seine Augen. Sie lächelten, erwartungsvoll.
    Dana versuchte krampfhaft, ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Im Sommer vor ihrem letzten Jahr an der Rhode Island School of Design hatten Lily und sie im Ida-Lewis-Yacht-Club gearbeitet. Dana hatte gehofft, den Fußstapfen von Hugh Renwick zu folgen und am Kai von Newport zu malen; schon damals hatte sie Segelkurse für Kinder gegeben, um ihr Kunststudium zu finanzieren. War das einer ihrer ehemaligen Schüler, inzwischen erwachsen geworden?
    »Erinnern Sie sich nicht?« Seine Stimme war tief, aber sanft.
    Dana betrachtete den jungen Mann genauer und merkte, wie sich die Erinnerung in ihr regte. Sie sah sich selbst und Lily, wie sie mit kräftigen Beinschlägen einen bewusstlosen Jungen abschleppten, ihn zwischen sich in den Armen hielten. Das Wasser im Hafen war sommerlich warm gewesen, sie meinte beinahe, die Füße ihrer Schwester zu spüren, die unter Wasser ihre Beine streiften.
    »Sam …« Der Name tauchte aus dem Nirgendwo, aus dem Dunkel der Vergangenheit auf.
    »Du erinnerst dich also doch.« Er grinste.
    »Wir haben dich nie vergessen! Lily erzählte mir, dass sie dich irgendwo getroffen hat – im Theater, oder?«
    »Vor etwas mehr als einem Jahr«, nickte er. »Sind die beiden Mädchen nun ihre Töchter oder nicht?«
    »Ja. Woher wusstest du das?« Sie versuchte zu lächeln.
    »Sie haben die typischen Underhill-Augen. Und Lily erzählte mir, dass du keine Kinder hast.«
    »Nein, nur Nichten. Das reicht mir schon.« Ihre Worte klangen scherzhaft, aber ihre Augen waren ernst. »Was führt dich hierher? Bist du Maler?«
    »Weit gefehlt.« Er lachte. »Ich bin Wissenschaftler. Ozeanograph, genauer gesagt. Erinnerst du dich an die Krebse?«
    »Und ob.« Sie lächelte, als ihr wieder einfiel, wie er auf dem Landungssteg gesessen hatte. »Und ob.«
    Mit einem jungenhaften Grinsen blickte Sam zu ihr hinab. Er war ziemlich groß; Dana musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu schauen. Er besaß offenbar viel Humor, das Lächeln schien Teil seiner Natur zu sein. Die Sonne ging hinter dem weißen Kirchturm der Congregational Church unter, und die zerkratzten Gläser seiner Brille spiegelten das verblassende goldene Licht wider.
    »Ich bin

Weitere Kostenlose Bücher