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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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verliebt hatten. Quinn wollte später Anthropologin werden. Sie würde am Connecticut College studieren, nur wenige Meilen entfernt, und sich mit den Pequots, Mohegans, Nehantics, Wampanoags und anderen indianischen Ureinwohnern befassen.
    Nach Frankreich zog es sie nicht im Geringsten. Während sie den Strand entlanglief, kam sie an mehreren Familien vorüber, die ihr Lager an der Gezeitenlinie aufgeschlagen hatten. Liegestühle, Decken, Eimer, Netze, um Krebse zu fangen, Sonnenschirme: Erinnerungen an ein anderes Leben. Quinn fluchte laut, als sie beinahe mit einem glücklichen Vater zusammengeprallt wäre, der mit seinem kleinen Kind knietief im Wasser stand.
    »Hey, hüte deine Zunge!«, schalt der Vater sie.
    »Tut mir Leid«, rief sie, mehr aus Gewohnheit denn aus echter Reue. Leute wie er hatten ein Brett vor dem Kopf. Ihnen war nicht klar, dass nicht jede Gemeinschaft für die Ewigkeit gemacht war, dass selbst die glücklichsten Familien binnen einer Sekunde zerstört werden konnten.
    Sie lief noch schneller, vorbei an den Segelbooten, die an der Kaimauer vertäut waren, und den Klippen, die zum Krebsfang einluden, den gewundenen Pfad den Hügel hinauf, bevor sie in den Waldweg einbog, der zum Little Beach führte. Hier begann das Naturschutzgebiet, ein idealer Ort für Waldindianer, wie sie sich vorstellen konnte. Bäume säumten den schmalen Pfad, der sich um Felsblöcke und umgestürzte Baumstämme schlängelte.
    Quinn spähte nach beiden Seiten, dann hielt sie inne. Da die Luft rein war, bahnte sie sich mit den Schultern ihren Weg durch das dichte Unterholz, bis sie zu der am Boden liegenden Eiche gelangte. Sie quetschte sich unter die abgebrochenen Äste und legte sich auf den Rücken. Mit ausgestreckten Fingerspitzen – schob sie ihre Hand Stück für Stück in eine Mulde und zog ein mit Plastik umwickeltes Päckchen hervor.
    Sie verstaute ihren Schatz im Hosenbund und biss fester auf den Filzstift. Während sie durch den Wald lief, warf sie verstohlene Blicke nach rechts und links. Der Pfad führte aus dem Wald hinaus und mündete auf einen schneeweißen Sandstrand. Quinn blinzelte, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten.
    Little Beach war menschenleer. Früher pflegte sie mit ihrer Mutter hierher zu kommen, um nach buntem Glas zu suchen, das vom Meer glatt geschliffen war, und flache Steine springen zu lassen. Unmittelbar hinter der Biegung begann Tomahawk Point, das Viertel der Reichen, und daran schloss sich Firefly Beach an, wo die Familie des namhaften Malers noch heute lebte. Der alte Hugh Renwick mochte berühmter sein, aber Tante Dana war besser. Ihr kostbares Päckchen festhaltend, huschte Quinn hinter einen großen rosagrauen Felsen, der mit Glimmer gesprenkelt war, funkelnd wie schwarze Sterne in der Morgensonne.
    Ihr Herz klopfte, als sie den Ziploc-Plastikbeutel an ihre Brust drückte. Er fühlte sich klamm an nach all den Frühlingsnächten im umgestürzten Baumstamm, und sie hoffte, dass die Feuchtigkeit nicht eingedrungen war. Der Baumstamm bot ein ideales Versteck für Zigaretten oder Bier, aber das hier war Schmuggelware anderer Art. Sie entfernte die Plastikhülle, holte ein blaues Notizbuch heraus und begann, einen Eintrag nachzulesen, den sie vor neun Monaten, im Oktober, geschrieben hatte.
    Grandma ist keinen Deut besser als Mom. Nach all dem ›Mir kannst du vertrauen‹-Gesülze hat sie das Gleiche wie Mom getan: in meinem Tagebuch geschnüffelt. Ob das in der Familie liegt? Sie hat die Abschnitte gelesen, in denen steht, wie sehr ich Mom und Dad vermisse und mir wünsche, ich wäre bei ihnen im Boot gewesen. Ich dachte mir schon, dass etwas im Busch ist, als sie wieder mit dem Klapsdoktor anfing. Ich zähle die Tage bis zu Tante Danas Ankunft. Dann kann Grandma getrost in ihr Altenheim zurückkehren, und wir leben mit jemandem unter einem Dach, der sich nicht verpflichtet fühlt, uns auf Schritt und Tritt zu überwachen. Tante Dana ist keine Glucke. Und sie bewahrt immer einen kühlen Kopf. Kühl wie Eisregen, wie der Nordpol, wie die Meerestiefen. Ich wünschte, sie würde bald kommen. Ich kapiere nicht, warum sie da drüben leben muss, so weit weg, wo ich sie doch hier haben möchte.
    Quinn blätterte um, zu der Seite, die sie im Januar geschrieben hatte, mehrere Monate später, und las sorgfältig, Wort für Wort.
    Alles ist blöd. Total blöd. Vor allem bin ich stinkig, weil ich eine ganze bescheuerte Meile (›beschissene‹ besser gesagt) durch den Wald

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