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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Beziehungskriminalität hat nichts mit dem Medizinerskandal zu tun.«
    »Hören Sie!«
    Die mühsam unterdrückte Panik des Kommissars bricht so unvermittelt hervor, dass Rita augenblicklich verstummt. Schilf lehnt die Stirn gegen einen Sandsteinpfeiler und zwingt sich, leise zu sprechen.
    »Ich gebe Ihnen recht, so hätte es gewesen sein können. Aber ich schwöre, Rita, so war es nicht.«
    »Schilf …«
    »Es war ein Dummer-Jungen-Streich, erdacht von einem besonders gefährlichen Jungen. Es war große Liebe. Die Viele-Welten-Theorie. Und ein Meisterstück des grausamsten Verbrechers, der sich auf Erden herumtreibt. Des Zufalls. So grausam, dass ich es vorziehe, nicht an ihn zu glauben.«
    »Kommissar Schilf«, sagt Rita. »Hören Sie sich selbst zu? Dummer Junge? Große Liebe? Zufall?«
    »Ich kann alles erklären«, flüstert der Kommissar.
    Der kleine Engel hat einen Arm ausgestreckt und folgt mit den Fingerspitzen den Linien auf einer Infotafel. Er sagt etwas. Der große nickt.
    »Ich werde Ihnen den wahren Schuldigen bringen. Er wird ein Geständnis ablegen. Sie können den Fall an höchster Stelle als gelöst präsentieren. Hören Sie auf, mich besiegen zu wollen, Rita. Helfen Sie mir!«
    »Aber Schilf«, ruft die Kommissarin, »was verlangen Sie denn von mir?«
    Der Kommissar entfernt das Telefon vom Ohr, um sich Stirn und Wangen zu trocknen. In die Besucher gerät Bewegung, die ersten nähern sich der Treppe zur Galerie. Schilf bückt sich und hebt die Aktentasche auf, die zwischen seinen Füßen klemmt.
    »Haben Sie heute Nacht schon etwas vor?«, fragt er.
    »Natürlich nicht.«
    Die beiden Engel schweben die Steinstufen hinauf. Schilf zieht sich weiter hinter seine Säule zurück.
    »Ich muss hier noch etwas erledigen«, sagt er. »Unternehmen Sie nichts. Halten Sie sich bereit.«
    »Eine Frage noch. Hat Ihre Sichtweise des Falls irgendetwas mit Krankenhäusern zu tun?«
    »Nicht einmal ansatzweise.«
    »Dann bis nachher.«
    Der Kommissar versenkt das Telefon in der Hosentasche und wartet, bis sämtliche Gäste den Vorführraum betreten haben. Dann zeigt auch er seine Eintrittskarte und schlüpft durch die Tür.
    Drinnen ist es düster. Stühle gibt es nicht; die Menschen stehen dicht gedrängt, überwölbt von einer bläulich leuchtenden Kuppel, und legen die Köpfe in den Nacken. Eine Lehrerin weist ihre kichernde Klasse an, sich auf den Boden zu setzen, weil die Kinder im Dunkeln das Gleichgewicht nicht halten können. Auch der Kommissar hat Schwierigkeiten mit der Balance, während er sich durch die Menge schiebt. Über ihm beginnt sich am künstlichen Himmel eine riesige Spirale zu drehen. E = mc 2 rast wie ein Asteroid vorbei. Die Kinder kreischen begeistert und ducken sich.
    »Wir sind zugleich Schauspieler und Zuschauer im großen Drama des Seins«, sagt eine Männerstimme zur Eröffnung der Show.
    Schilf hat seine beiden Engel gefunden und steht jetzt direkt hinter ihnen. Jedes Mal, wenn der Größere die Schultern bewegt, steigt der Duft des glatten Haars in Wolken auf. Ganz anders als bei Julia. Noch süßer. Ein Aroma wie von Lindenblütentee, das Bilder aus den Tiefen des Vergessens an die Oberfläche lockt. Das, denkt Schilf, ist meine neue Vergangenheit. Daran werde ich mich erinnern, wenn ich gehe. Ein Mann, eine Frau, ein aufgeregter Junge, die Gesichter dem Weltraum zugewandt. Vielleicht ein Streicheln am Rücken, ineinander verschränkte Finger, ein Kinderkopf, der genau in den Handteller passt. Fast hätte Schilf seine beiden Zielpersonen an den Schultern berührt; gerade noch rechtzeitig zieht er die Hände zurück. Dicht vor ihm stehen zwei Menschen, für deren Zukunft er verantwortlich ist. Das Schicksal hat sie mit ihm in einem winzigen Punkt auf der äußeren Kruste des Planeten vereint.
    Die Zeit der Selbstvergessenheit ist vorbei, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar. Auf den letzten Metern behandelt man das Leben nicht mehr wie einen Schuh, von dem man nichts weiß, solange er nicht drückt.
    Für einen Moment ist Schilf so glücklich, dass er weinen möchte. Aber natürlich hat er, wie die meisten Menschen, die Fähigkeit zu weinen vor langer Zeit gegen das Verlangen nach Rache eingetauscht. Er ist sich im Klaren darüber, dass er für niemanden mehr ein Zuhause errichten kann. Er kann nur denjenigen bestrafen, der es gewagt hat, etwas so Kostbares wie ein Zuhause zu zerstören. Der Kommissar tritt einen Schritt zurück, er muss achtgeben, dass er nicht vornüberkippt.

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