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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Freundin. In einer schwachen Sekunde habe ich Ihnen von ihr erzählt.«
    »Wo Sie’s sagen!« Rita Skura ist bester Stimmung. »Wahrscheinlich habe ich Ihnen das gar nicht geglaubt.«
    »Geht mir ähnlich.«
    »Witzbold. Ich rufe an, um Ihnen eine Lektion zu erteilen.«
    »Fein«, sagt Schilf missmutig. »Verkehrte Welt.«
    Es ist kein guter Augenblick zum Telefonieren. In akustischer Hinsicht ähnelt die kreisrunde Halle einer Kathedrale. Der Kommissar versteckt sich zwischen den Säulen der Galerie. Über ihm wölbt sich eine Kuppel, die mit den Sternbildern des Winterhimmels ausgemalt ist. Unten gehen Menschen umher, die auf den Beginn der Vorstellung warten. Sie betrachten Schaukästen an den Wänden oder stehen in kleinen Gruppen beisammen und unterhalten sich. Wenn hinter dem Gebäude ein Zug vorbeifährt, vibriert der Boden.
    »Das Thema der Lektion lautet: Wie fühlt es sich an, wenn einem der Fall vor der Nase weggeschnappt wird?«
    »Dann mal los.«
    »Wissen Sie, wer Liam nach der angeblichen Entführung im Pfadfinderlager abgeliefert hat?«
    »Ja.«
    »Sie bluffen.«
    »Keineswegs.«
    Rita Skura saugt Luft zwischen den Zähnen ein. Das Zischen klingt, als würde ein doppelter Boden zur Seite gezogen. Das Gespräch stagniert, während die gute Laune der Kommissarin damit beschäftigt ist, in ihr Gegenteil umzuschlagen.
    »Dann sagen Sie es«, stößt sie schließlich hervor.
    »Oskar.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Weil es die Wahrheit ist. Und Sie?«
    »Meine Leute waren in Gwiggen.«
    Unwillkürlich muss der Kommissar lächeln. Er weiß, dass die Rolle von Ritas Leuten von Polizeiobermeister Schnurpfeil ausgefüllt wird.
    »Man hat mir aus Gwiggen eine Personenbeschreibung durchgegeben. Sie passt auf ein Photo, das sich im Schreibtisch des Mörders fand.«
    »Was«, fragt der Kommissar scharf, »haben Sie an Sebastians Schreibtisch verloren?«
    »Hausdurchsuchung«, sagt Rita. »Ein bewährtes Instrument der polizeilichen Ermittlungsarbeit.«
    »Um Gottes willen! Warum lassen Sie ihn nicht mit diesem Unsinn in Ruhe?«
    »Ganz einfach, Schilf. Er hat einen Mann umgebracht.«
    »Er hat ein Geständnis abgelegt.«
    »Ich suche das Motiv.«
    »Dann können Sie mich anrufen!«
    Erschrocken über die eigene Lautstärke, legt sich Schilf eine Hand auf den Mund. Vorsichtig beugt er sich über die Brüstung. Niemand sieht zu ihm hoch. Die beiden Personen, die er in einem Augenblick sprechen will, in dem sie nicht weglaufen können, stehen vor einem Glaskasten. Die Vitrine enthält Kugeln verschiedener Größen. Aus jeder wurde ein pyramidenförmiges Stück herausgeschnitten, damit man das bunt gestreifte Innere betrachten kann.
    »Ich rufe nicht mehr mit Fragen an«, sagt Rita, »sondern mit Antworten.«
    Als sich die beiden vom Schaukasten abwenden, werden sie den Blicken des Kommissars vom Sonnensystem entzogen. Es hängt in der Mitte der Halle und dreht sich an Stahlseilen wie ein Mobile. Schilf beneidet den Ordnungswillen, der die Planeten auf ihren Bahnen hält. Er hat den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik im Internet nachgeschlagen. Das Maß der Unordnung in einem System nimmt stetig zu, wenn man diesem Prozess nicht gewaltige Energiemengen entgegensetzt. Schilfs Energie hat offensichtlich nicht einmal ausgereicht, um Sebastian vor Ritas Suchaktion zu bewahren. Die Wohnung muss jetzt aussehen wie das Durchzugsgebiet eines Tornados.
    »Jedenfalls freue ich mich«, sagt er ins Telefon, »dass Sie es endlich glauben.«
    »Was glauben?«
    Als Schilfs Zielpersonen vor dem nächsten Schaukasten stehen bleiben, bekränzt ein Scheinwerfer ihre blonden Haare mit Licht. Zwei Engel, denkt der Kommissar, die das Weltall durchschreiten.
    »Dass Sie endlich an die Erpressung glauben.«
    »Du meine Güte.« Die fröhliche Rita ist endgültig verschwunden. Es spricht die Beamtin, kühl, gewissenlos und effizient. »Anscheinend sind Sie nicht ganz auf der Höhe der Sachlage. Dieser Oskar, der den Entführten nach Gwiggen gebracht hat, ist Sebastians bester Freund.«
    »Stoff für eine griechische Tragödie«, sagt Schilf.
    »Ich nenne das Beihilfe zum Mord. Und gar nicht dumm. Der Professor muss einen Rivalen aus dem Weg räumen. Sein Freund fingiert eine Erpressung. Viel besser als ein wackliges Alibi. Ich hab gleich geahnt, dass es um ein Beziehungsdelikt geht.«
    »Deshalb sind Sie vom Gegenteil dieser Annahme ausgegangen, nicht wahr?«
    »Wie dem auch sei«, sagt Rita. »Beziehungskriminalität ist super.

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