Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
plötzlichen Schweigen eine unkonzentrierte Anekdote von einem jungen Hilfswissenschaftler. Der hatte es sich in den Kopf gesetzt, wie Heisenberg beim Spaziergang über eine Insel auf eine geniale Idee zu kommen, und sein ganzes Gehalt für Reisen nach Sylt verbraucht. Dort vertrat er sich auf schafdummen Deichen endlos die Beine, bis er eines Tages erfuhr, dass Heisenberg seine Unschärferelation nicht auf Sylt, sondern auf Helgoland ersann, und dann weiß Oskar nicht mehr, worauf er hinauswollte, zumal die Anekdote nicht wahr ist, sondern nur in einer anderen Situation einmal gut funktioniert hat.
    Es ist fast dunkel geworden. Unten vor dem Haus hat die Laterne ihren Einsatz verpasst und wird wohl die ganze Nacht nicht mehr leuchten. Die Berge haben ein Käuzchen als nächtlichen Späher herabgeschickt; es sitzt irgendwo in den Ästen der Kastanie und ruft leidend wie durch hohle Hände. Kreuz und quer liegt das Besteck auf den Tellern. Liams Kopf nickt langsam im Takt der eigenen Schläfrigkeit. Oskar sieht mit übereinandergeschlagenen Beinen und gekreuzten Armen aus, als würde er für ein Schwarz-Weiß-Photo posieren. Bevor die Szene endgültig zum Standbild erstarrt, dehnt er den Rücken und zieht Luft in die Lungen. Es ist offensichtlich, dass er etwas ankündigen will. Er streicht sich über die tadellose Frisur und klopft eine weitere Filterlose aus dem Päckchen.
    »Früher«, sagt er zu Sebastian, »hätten wir uns wahrscheinlich im Morgengrauen auf einer Lichtung getroffen.«
    Liams Kopf schnellt hoch. Neugier glättet seine verschlafenen Züge, während Sebastian nur mühsam aus seinen Gedanken an die Oberfläche findet. Schließlich begreift er, dass die Dunkelheit im Raum nicht an seiner Verwirrung liegt, kippt auf den hinteren Stuhlbeinen zurück und schaltet die Deckenlampe ein. Maike unterdrückt ein Gähnen und sammelt halbherzig Besteckteile auf einem abgegessenen Teller.
    »Heutzutage«, sagt Oskar, während er die kalte Zigarette von allen Seiten betrachtet, »stehen auf derartigen Waldlichtungen Mikrophone und Fernsehkameras.«
    »Du sprichst in Rätseln«, sagt Maike. Das Gähnen nutzt die günstige Gelegenheit, um ihr beim letzten Wort die Kiefer auseinanderzuzwängen.
    Oskar legt die Zigarette unangezündet auf den Tisch, faltet seine Serviette zusammen und spricht weiter in Sebastians Richtung.
    »Fernsehen«, sagt er. »Medien. Das magst du doch, n’est-ce pas ?«
    Es liegt etwas Alarmierendes in seiner Stimme, das die Verträumtheit endgültig aus Sebastians Gesicht wischt.
    »Was hast du vor?«
    »Seit einiger Zeit betreibt das ZDF ein neues Wissenschaftsformat«, sagt Oskar und erhebt sich. » Zirkumpolar . Ich habe für uns beide zugesagt. Morgen Abend fahren wir nach Mainz.« Schon auf der Schwelle, hebt er einen Finger. »Pünktlich um 23 Uhr. Sie senden live.«
    Liams Freudenschrei sichert ihm den Rückzug. Aufgeregt rennt der Junge um den Tisch und krallt die Finger in Sebastians Hemd. Gleichzeitig ist Maike zum offenen Fenster gelaufen. Mit hektischen Bewegungen scheucht sie ein flatterndes Etwas zurück in die Dunkelheit.
    »Das war ein Käuzchen!«, ruft sie. »Habt ihr das gesehen? Das gibt’s doch gar nicht!«
    »Papi«, schreit Liam. »Kommst du ins Fernsehen?«
    »Mir scheint eher, ich ziehe in den Krieg.«
    Die Tür zum Badezimmer schlägt zu. Sebastian sucht Maikes Blick, aber die hängt noch immer halb aus dem Fenster und schaut dem unmöglichen Vogel hinterher. Sebastian ist eigentlich gar nicht nach Lachen zumute, als seine Bauchdecke schon zu zucken beginnt. Wie Luftblasen steigt es in ihm auf und schüttelt Liams kleinen Körper, der an dem seinen lehnt. Als er den Klang des eigenen Gelächters hört, wird ihm klar, dass die Würfel schon gefallen sind. Oskar hat mit Sebastians Stolz kalkuliert und die Sache so eingefädelt, dass eine Ablehnung der Herausforderung nicht infrage kommt.
    »Du Schurke!«, ruft er über den Flur.
    Warum ihm ausgerechnet dieses alberne Wort eingefallen ist, könnte er selbst nicht sagen.

7
    D rei leere Weinflaschen sind auf dem Tisch zurückgeblieben. Das Fenster ist geschlossen, Motten schlagen gegen das Glas. Die Erwachsenen sind ins Wohnzimmer umgezogen; zwei Räume weiter übt sich Liam in Schlaflosigkeit. Leise Musik durchwebt die Rauchschlieren unter der Zimmerdecke. Sebastian sitzt auf der Couch, schwenkt eine bernsteinfarbene Pfütze Scotch im Glas und genießt das Brennen, das ihm den Magen wärmt, ohne zu wissen, ob es vom

Weitere Kostenlose Bücher