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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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zurückgekehrt, um seine Tasche zu holen, und irrte auf der Suche nach dem Ausgang über die Gänge des Sendegebäudes. Als sein Handy endlich Empfang bekam, wählte er die Nummer der Freiburger Wohnung und lauschte verblüfft Liams aufgeregtem Geschrei und Maikes fröhlicher Stimme. Das war ja was!, lachte sie und wechselte den Tonfall, als sie merkte, in welcher Verfassung sich Sebastian befand. Sie suchte nach Trostworten und hatte den Ernst des Vorfalls gar nicht begriffen. Es war wohl dem Lärm im Studio zu verdanken, dass Maike nicht mehr gehört und gesehen hatte als eine heftige wissenschaftliche Auseinandersetzung. Die Erleichterung machte Sebastian schwindeln. Er beschloss, auf die einsame Nacht in einem Mainzer Hotel zu verzichten und nach Freiburg zurückzufahren. Während eines dreistündigen Blindflugs über die Autobahn drehte sich das Gedankenrad in seinem Kopf unablässig um den Versuch, Oskars Persönlichkeit, Oskars Charakter, Oskars Geisteszustand und überhaupt sein ganzes Wesen nach zwanzig gemeinsamen Jahren noch einmal unter völlig neuem Blickwinkel zu analysieren. Weit kam er damit nicht. Er konnte sich schlecht konzentrieren und landete immer wieder bei derselben Erkenntnis wie vor einer Wand: Menschen wie Oskar verstehen das Leben als ein Spiel, das man gewinnen muss.
    Zu Hause erwartete ihn Maike an der Wohnungstür mit einem frisch gemixten Whisky Sour in der Hand und äußerte zu seiner Überraschung etwas Ähnliches: Für Oskar reicht es nicht zu gewinnen, die anderen müssen auch verlieren. Und nicht einmal dich liebt er so sehr wie den Krieg. – Anscheinend hatten sie jahrelang nicht über Oskar geredet, um in dieser Nacht zum selben Ergebnis zu kommen. Stundenlang hörte Maike den Hasstiraden ihres Mannes zu, wiederholte, dass sie ihn liebe und dass ihm ein Idiot wie Oskar doch einfach den Buckel runterrutschen solle. Als Sebastian endlich betrunken war, brachte sie ihn ins Bett.
    Jetzt fährt er einen Schlenker über die Gegenfahrbahn, um den zerquetschten Kadaver eines Hasen nicht zu überrollen. Auf einem Begrenzungspfahl sitzt ein Raubvogel mit schwarzen Augen.
    Vielleicht, denkt Sebastian, ist das Ganze ein Glück. Ein Warnsignal, ein Noch-mal-gut-Gegangen, damit es nicht eines Tages zu einer wahren Tragödie kommt. Natürlich weiß er, was er an Maike hat. Aber seit gestern Nacht spürt er deutlich wie nie, dass er dieses Geschenk eigentlich gar nicht verdient. Reiche Kunden der Galerie legen Maike zur Begrüßung die Hand auf den Hintern, was er inzwischen nur noch aus Erzählungen weiß, weil er sich auf ihren Vernissagen nicht mehr blicken lässt. Wenn Maike im Badezimmer steht, um sich vor dem Spiegel ein (wie sie meint) hübscheres Gesicht aufzumalen, lehnt er in der Tür und behauptet, die Physik sei ein strenger Chef, womit er zum Ausdruck bringen will, dass er auch am Wochenende arbeiten muss. Kaum ist sie weg, sitzt er mit Liam am Boden des Kinderzimmers und redet über Urknalltheorien. An den Wänden der Wohnung hängen großformatige Bilder, zu denen Maike Dinge einfallen, die er nicht versteht. Sebastian kennt die jungen Künstler, die stets zu klein für ihre Hosen und Brillen sind und mit abgewandten Gesichtern Sätze sprechen, die nur aus Substantiven bestehen. Er kennt auch die Sammler, deren Anzüge ein Vermögen kosten, um möglichst desolat auszusehen. Es liegt weder an mangelnder Gelegenheit noch an der Anständigkeit des Kunstbetriebs, dass Maike ihm keinen Anlass zur Eifersucht gibt.
    Sogar als sie Dabbeling kennenlernte, bestand sie darauf, die beiden Männer einander vorzustellen. Im Radsportclub gab Sebastian dem Oberarzt die Hand und empfand Mitleid mit dessen dünnen, wie aus Seilen gedrehten Gliedmaßen und dem erschöpften Gesicht. Zwei große Punkte die Augen, ein Komma die Nase, der Mund selbst im Lachen ein Strich. Sebastian lieh sich im Club ein Rad und ignorierte die Blicke der anderen Sportler, in denen die exakte Anzahl von Maikes und Dabbelings Treffen zu lesen stand.
    An der ersten steilen Stelle des Schauinslands strampelte ihnen der Oberarzt davon. Gut gelaunt leistete Maike ihrem Mann beim Schieben Gesellschaft. Erst auf dem Gipfel begegneten sie Dabbeling wieder, der die Auffahrt in sagenhaften 35 Minuten bewältigt hatte. Er lag auf dem Boden, die Unterschenkel auf der Sitzfläche einer Bank, und riss den Oberkörper in die Höhe, um abwechselnd das linke und das rechte Knie mit der Stirn zu berühren. Beim Kaffeetrinken schaute er

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