Schilf
ungeduldig in die Landschaft, als überlegte er, wie viele Berge man in der Zwischenzeit hätte bezwingen können. Das Letzte, was Sebastian an jenem Tag von Ralph Dabbeling sah, war ein mit gelbem Polyamid bespannter Rücken, der sich beim Abwärtsbrausen in einer Kurve gefährlich dem Asphalt zuneigte. Maike und Sebastian ließen sich Zeit und aßen auf dem Rückweg durch Günterstal in einem guten Restaurant.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Liam ist zu still.
3
S ebastian dreht den Innenspiegel, bis er seinen Sohn sehen kann. Mit zur Seite gekipptem Kopf lehnt Liam in der Ecke der Rückbank. Sein Körper wird nur vom Sicherheitsgurt gehalten, der ihm als breiter Strich über Hals und Brustkorb läuft. Offensichtlich tut das Reisemedikament seine Wirkung. Bei der Abfahrt hat Liam dem Haus zugewinkt, als wären sie zu einer Weltumsegelung aufgebrochen. Sebastian fährt die Scheibe hoch und will das Radio ausschalten, obwohl es gar nicht spielt. Schlaf ist mit Sicherheit das Beste, was seinem Sohn im Augenblick passieren kann.
Je weiter sie sich von Freiburg entfernen, desto flüssiger arbeiten Sebastians Gedanken. Er drückt die Arme durch; ein Gähnen treibt Luft bis in die äußersten Zipfel der Lungen. In den nächsten Wochen wird er noch ausreichend Zeit haben, auf sich selbst wütend zu sein. Nicht nur, weil er es wieder einmal nötig hatte, die Herausforderung eines Stärkeren anzunehmen, sondern auch, weil er sich für die Herausforderungen der Schwachen nicht zu schade ist. Solche Beiträge wie jenen im SPIEGEL schreibt er, weil ihn die Fachzeitungen nicht drucken. Er redet sich ein, dass nichts Unehrenhaftes daran sei, einem großen Publikum seine Ideen nahezubringen. Aber wenn er sich vorstellt, wie Oskar die Ausführungen liest, steigt ihm das Blut in die Wangen.
Die Viele-Welten-Interpretation, hat Sebastian geschrieben, sei nichts Geringeres als ein Ausweg aus dem zentralen Paradoxon der menschlichen Existenz. Nach den Betrachtungsweisen der klassischen Physik bleibe es nämlich unerklärlich, warum das Universum mit geradezu monströser Genauigkeit auf die Bedürfnisse biologischen Lebens abgestimmt sei. Wäre zum Beispiel die Expansionsgeschwindigkeit des Raums nur um einen winzigen Bruchteil größer oder geringer – es gäbe die Menschheit nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Universum mit den bekannten Bedingungen entstehe, habe im Moment des Urknalls bei 10 hoch minus 59 gelegen. Somit sei die Existenz der Erde ebenso unwahrscheinlich wie der Versuch, neun Mal in Folge einen Sechser im Lotto zu erzielen. Stochastisch betrachtet, könne die Menschheit als nicht vorhanden gelten. Die Menschen würden von der Unwahrscheinlichkeit ihres Daseins regelrecht erdrückt, und genau hier liege die Ursache für ihre dringende Sehnsucht nach einem Schöpfer.
Wer nicht an Gott glaube, fährt der Artikel fort, müsse die Statistik bemühen. Wenn nämlich im Urknall nicht ein Universum, sondern 10 hoch 59 verschiedene entstanden wären, nähme es nicht wunder, wenn eins davon zum Leben tauge. Die einzig logische, nicht-theologische Erklärung der menschlichen Existenz liege darin, sich den Raum (und damit die Zeit) als einen ungeheuren Stapel von Welten zu denken, der sich mit jedem Augenblick um immer neue Schichten vergrößere. Ein wachsender Zeit-Schaum, in dem jede Blase eine eigene Welt vorstelle. Alles, was möglich ist, geschieht – dasHamburger Nachrichtenmagazin mochte die Überschrift.
Nichts von dem, was der Beitrag erklärt, ist falsch. Vielmehr bewegen sich solche Überlegungen auf einem Gebiet, wo »falsch« und »richtig« kaum noch eine Rolle spielen. Aber genau das provoziert Oskars beißenden Spott. So sind sie, die Dummen!, hört Sebastian ihn rufen. Nehmen ein Fragewort, ein beliebiges Warum?, schleudern es der Welt entgegen und wundern sich, wenn sie keine sinnvolle Antwort erhalten. Jeder Vogel auf dem Ast, cher ami , der einfach nur zwitschert und diese unsinnige Fragerei unterlässt, ist klüger als du!
Sebastian löst eine Hand vom Lenkrad und wischt sich den Schweiß von der Oberlippe. Schlimmer als Oskars Sticheleien ist die Tatsache, dass die Beschäftigung mit solchen Theorien sein Leben stört. In letzter Zeit zieht er sich fast täglich nach dem Abendessen ins Arbeitszimmer zurück. Dort brütet er über seinen Unterlagen, bis sich irgendein Formelfragment wie eine hängen gebliebene Schallplatte durch seinen Kopf zu drehen beginnt. In manchen Nächten wagt er nicht
Weitere Kostenlose Bücher